Geht man auf die Anfänge des Rock'n'Rolls in den Fünfzigerjahren zurück, erscheint es, als wäre dies eine einzige Männerdomäne: Die Titanen des Rhythm'n'Blues – Big Joe Turner, Fats Domino, Louis Jordan und Konsorten – und dann die frühen Rockabillies Elvis, Carl Perkins, Jerry Lee und Co., die den schwarzen Sound den weissen Teenies zugänglich machten. Pioniere! Und allesamt wichtige Persönlichkeiten. Und allesamt Typen.
Allesamt?
Sechzig Jahre lang hat uns die gängige Meinung diktiert, dass Frauen in den 50er-Jahren keinen Rock'n'Roll betrieben haben.
Diese Aussage von Sängerin Connie Francis stellt die damals gängige Meinung dar. Weshalb eigentlich? Noch in den Kriegsjahren herrschte ja in etlichen Männerdomänen Not am – öh – Mann, ... worauf Frau pflichtbewusst eingesprungen war und den augenscheinlichen Beweis erbracht hatte, dass Frauen alles genauso gut hinbekamen. Doch keine Dekade später setzte man (Mann) tunlichst alles daran, die erreichten emanzipatorischen Errungenschaften wieder rückgängig zu machen. Zurück an den Herd sollte die ideale amerikanische Hausfrau! Die wundersamen neuartigen Gerätschaften (Küchenspülmaschine u.Ä.) würden sie über den Freiheitsverlust locker hinwegtrösten!
Doch dann kam Rock'n'Roll.
Und dieses anarchische wunderbar rhythmische Ur-Ding roch nach Schweiss und Sex und – aha! – Freiheit. Ordentlich gefährlich für die Programm-Idylle von Middle America.
Gut, Ende der Fünfzigerjahre hatte man das Biest Rock'n'Roll mehr oder minder gezähmt: Der Musikmarkt war mit putzigen Teenie-Stars, die keuschen Rock'n'Roll-Abklatsch auftischten, saturiert. Elvis schickte man ins Militär. Chuck Berry steckte man in den Knast. Und so weiter ... aber hier geht es um was anderes.
Mit dem Women In Rock Project, das Anfang Jahr lanciert wurde, geht es darum, endlich den Pionierinnen eine Stimme zu geben; den Frauen, die beim Urknall des Rock'n'Rolls dabei waren.
Nachzuschlagen auf der Website womeninrockproject.org, kann man im stetig wachsenden Archiv weiblicher Performer der Entstehungsphase des Rock'n'Roll stöbern.
Und hier, stellvertretend für hunderte weitere, kommen einige meiner absoluten Lieblings-Künstlerinnen dieser Ära:
Die Über-Ikone: Wanda aus Oklahoma war vielleicht nicht der allererste weibliche Rock'n'Roll-Star. Aber ihr Einfluss und ihre Leistung sucht ihresgleichen. Mit 17 Jahren veröffentlichte sie ihre erste Country-Single, bekam aber trotz beachtlichen Erfolgs vom Capitol-Label einen Korb: «Girls don't sell records», so die Begründung von Produzent Ken Nelson. Knapp 18-jährig machte Wanda unverdrossen weiter, ging mit einem jungen Hillbilly-Sänger namens Elvis Presley auf Tournee (datete ihn damals auch kurz, übrigens) und beschloss, sie könne das neue Ding da mit dem Rock'n'Roll ebenso gut.
Keine üble Ansage, denn, ... okay Leute, das muss man nun mal im Kontext betrachten: Wir schreiben das Jahr 1956. Und eine junge weisse Frau erlaubt sich, in hochhackigen Schuhen und kurzem Kleid «Negermusik» zu singen. Dazu noch mit einer gemischtrassigen Band. Und noch mit einer Stimme, die sich gehörig vom gängigen Schönheitsideal weiblicher Singstimmen verabschiedet hatte. Der Mut, den es damals dazu brauchte, ist unvorstellbar.
Verneigt euch, also, vor der Queen of Rockabilly!
Wanda Jackson ist übrigens erst dieses Jahr – mit 81 Jahren – in die wohlverdiente Rente gegangen. Sicher im Wissen, dass sie Legionen junger Frauen zu ihren Fans zählen durfte und darf.
Hier ist sie mit zarten 74 Lenzen zusammen mit Jack White:
Rock'n'Roll bekam seinen Namen erst, als diese ehemals schwarze Musikform von weissen Kids entdeckt wurde (dass man ausgerechnet einen Slangausdruck für Sex dafür auswählte, trägt nur noch mehr zur subversiven Kraft dieser Musik bei). Vorher hiess der Sound Rhythm'n'Blues und er richtete sich thematisch an ein erwachsenes Publikum.
Niemand dabei mehr als Boogie-Woogie-Pianistin Julia Lee, die mit eindeutig-zweideutigen Songs bereits ab 1947 eine Reihe von Hits landete: «King Size Papa», «I Didn't Like It the First Time», «Gotta Gimme Whatcha Got» ... oder das hier:
Unter den frühen R'n'B-Sängerinnen gab es wohl keine, die bigger und böser war als Willie Mae Thornton aus Alabama. Selbst in der rabaukigen Welt der schwarzen Blues-Clubs galt die kettenrauchende Thornton, die sich mit Vorliebe in Männergarderobe kleidete, als Exzentrikerin.
Ihre Karriere startete durch, als zwei junge jüdische Songwriter – Jerry Leiber und Mike Stoller – den Song «Hound Dog» für sie schrieben. Der spätere Elvis-Hit (der aber auf einer anderen Version des Songs basierte) wurde zum Verkaufsschlager. Aber Thorntons Version war die erste – und die, die satte 500'000 Exemplare verkaufte.
Okay, Sparkle Moore aus Nebraska war – seien wir hier mal ehrlich – nicht gerade die beste Sängerin der Welt. Aber ihren rechtmässigen Platz in dieser Liste nimmt sie alleine schon wegen ihrer schieren Exzentrik ein. Knickerbocker-Hosen, gestreifte Jacken-Ensembles oder Leopardenfell-Blusen, und eine Tolle, die Elvis gerade mal nichts schenkt. Ordentlich seltsamer Look, wenn man's sich so überlegt – und für 1956 ziemlich gewagt.
Sparkle Moore blieb zeitlebens zu obskur, um einen wirklichen Einfluss auf die Musikgeschichte zu haben. «Skull and Crossbones» ist trotzdem ein geiler Track.
Gospel Music? Ja-ha, auch das gehört zu den Wurzeln des Rock'n'Rolls. Doch «Sister» Rosetta Tharpe war keineswegs eine andächtige Kirchensängerin. Vielmehr war sie die Erste, die Gospelmusik mit fetten R'n'B-Beats versah und somit das Genre ein für alle Mal veränderte. Zudem war sie eine Gitarrenheldin erster Güte. Hört mal, wie sie da loslegt!
(Gitarrensolo ab 1:20)
Auch Wynona Carr kam ursprünglich aus der Gospel-Ecke. Ihrem Vorbild Rosetta Tharpe entsprechend nannte sie sich «Sister» Wynona Carr. Obwohl sie damit auf Little Richards Specialty-Label gehörigen Erfolg hatte, munkelte man zeitlebens, ihre rauchige Stimme wäre wohl besser geeignet für säkularere Gesänge. Und so nahm sie rund zwei dutzend groovige R'n'B-Nummern auf, von denen die folgende vielleicht die grossartigste ist:
«The Female Elvis» schrieb ihren ersten Song mit 14, ging mit 15 auf Tournee, verkaufte 750'000 Platten, brannte mit ihrem Freund durch und meldete sich erst wieder bei ihren Eltern, als die Heirat unter Dach und Fach war, wurde mit 16 schwanger und deswegen von ihrer Plattenfirma fallengelassen. Und das alles vor ihrem 18. Geburtstag. Was hast du so als Teenager erreicht?
Janis Martin zog sich 1960 aus dem Musikgeschäft weitgehend zurück. Sie gilt bis heute nebst Wanda Jackson als eine der wichtigsten Pionierinnen des Rockabillys.
Vielleicht ist LaVern Baker, die Über-Ikone des weiblichen Rhythm'n'Blues, kulturell die wichtigste Nennung auf dieser Liste. Denn sie war es, die als Erste sogenannte Crossover Hits landete, ergo Erfolge sowohl in den schwarzen R'n'B-Charts als auch in den allgemeinen Pop-Charts feiern konnte.
Dank dem Erfolg von Performerinnen wie ihr (und der unten folgenden Ruth Brown) wurde Mittelstands-Amerika mit dem Konzept der rockenden schwarzen Frau konfrontiert. Danke dafür.
Hört euch das mal an, liebe angehende Sängerinnen und Sänger: Hier ist kein Insta-Star mit Pult-Mikro am rumhauchen. Nope. So hört sich eine Stimme an, die sich jahrelang unverstärkt gegen Saxophone und Schlagzeug behaupten musste:
Jap, das ist die grosse Ruth Brown, der andere Megastar der R'n'B-Welt, die jahrelang derart fleissig den schwarzen Club-Circuit der Südstaaten bespielte, dass es deswegen bald einmal hiess, «In the South Ruth Brown is better known than Coca-Cola». Und wie LaVern Baker war sie dank einigen Hits urplötzlich im Radio weisser Mittelschichtsfamilien zu hören. Da gab es etwa diesen einen Song, etwa, «Lucky Lips» hiess der (der Jahre später grauenhaft zu «Rote Lippen soll man küssen» verdeutscht wurde).