Am Ende des Jahres wollen sich doch einfach alle noch einmal was Fettes gönnen. In der Schweiz manifestiert sich dieser Trieb im dekadenten Eintauchen von Rindfleischrölleli in übersalziger Knorr-Brühe. Gefolgt vom verhaltenen Nippen an einem Schaumwein, der teurer aussieht, als er schmeckt und dem Verteilen dreier Küsschen für jede anwesende Backe.
Die, die es sich richtig hart geben wollen, veranstalten zum Jahresbeginn noch eine pyrotechnische Gewaltdarbietung und schlafen dann bis elf Uhr morgens aus. Oder bis zwei Uhr nachmittags, falls sie ihren von Torschlusspanik geplagten Körper noch in einen Klub geschoben haben.
Hart gönnen tun zum Jahresende auch Menschen jenseits der helvetischen Grenzen. Wobei sich das «Gönnen» oft nicht nur als Genussakt, sondern vielmals auch als kuriose Tradition zeigt.
Zum Neujahrsfest wird in Griechenland exzessiv gezockt. Hoch her geht es vor allem bei Karten- oder Würfelspielen – zu Hause oder im Kasino. Das grosse Neujahrszocken beginnt am Abend des 31. Dezember und dauert oft bis zum Sonnenaufgang am 1. Januar. Landesweit wird legal oder illegal ein dreistelliger Millionenbetrag verspielt. Wir lassen an dieser Stelle die zynischen Kommentare zu Griechenlands Finanzlage.
Wer bei den griechischen Spielnächten gewinnt, soll das ganze Jahr über Glück haben. Wer nicht gewinnt, könne wenigstens auf Glück in der Liebe hoffen, so die dortige Redensart.
In Italien steht die Hoffnung, glücklich und reich zu werden im Zentrum des letzten Tags im Jahr. Und damit Glück und Reichtum auch tatsächlich eintreffen, ist das Tragen von roter Unterwäsche in der Silvesternacht unumgänglich.
Wo dieser Brauch genau herkommt, weiss niemand so genau. Ob es ein Überbleibsel der römischen Hochkultur oder eine Importtradition aus Marco Polos Weltreisen ist – darüber kann nur gewerweisst werden. Auf jeden Fall macht die Dessous-Industrie ein gutes Geschäft durch diesen Brauch. Denn die intensivste Wirkung haben diejenigen Schlüpfer, die man extra für Silvester geschenkt kriegt und dann auch nur einmal trägt.
Auch in den USA gibt es abergläubische Strategien, um in ein glückseliges neues Jahr zu starten. Der Verzehr von Linsensuppe und anderen Linsengerichten soll finanzielle Sicherheit gewähren. Dieser Brauch heute wird vor allem noch in den Südstaaten praktiziert. Er stammt aus Zeiten der Westwanderungen, wo unzählige Immigranten aus Europa im Westen der USA ihr Glück mit der Goldgräberei zu finden versuchten.
Ein weiterer US-amerikanischer Neujahrsbrauch ist die «Nothing goes out»-Regel. Nichts und niemand darf an Silvester aus dem Haus – auch nicht der volle Müllsack – sonst steht einem ein böses Jahr bevor.
In Japan kommen die letzten Tage des Jahres einem richtigen Katharsis-Programm nahe. Am 23. Dezember beispielsweise werden in einer kollektiven Lachorgie alle Sorgen des letzten Jahres über 20 Minuten hinweg weggekichert. Das Lachen, so ein japanischer Mythos, soll die Höhle der Sonnengöttin öffnen. Mehr dazu im Video unten …
Um Punkt Mitternacht des 31. schlagen dann die Tempelglocken in ganz Japan 108 Mal. Bei jedem Schlag soll man sich von einer Sünde des letzten Jahres befreien. Sodass man am nächsten Tag wieder frisch fröhlich damit starten kann, während der nächsten 365 Tage 108 Mal gegen Sitte und Norm zu verstossen.
«Weg mit dem alten Zeugs!», heisst das Motto auch in Argentinien kurz vor dem Jahreswechsel. Hier findet der Bereinigungsakt aber etwas mehr administrativ als spirituell statt.
Um sich von den Altlasten zu befreien, vernichten die Argentinier am letzten Tag des Jahres sämtliche Unterlagen, die sie im neuen Jahr nicht mehr brauchen. Entweder werden die Papiere in mühsamer Handarbeit zu Schnipseln zerrissen und zerschnitten, oder sie man lässt sie ganz einfach einmal durch den Schredder. Egal, wie die Unterlagen verkleinert werden, sie fliegen alle danach als Papierregen aus dem Fenster.
Statt nur eine mickrige Zündschnur anzuzünden, wie etwa bei einer Neujahrsrakete hierzulande, fackelt man im südamerikanischen Ecuador ganze Puppen ab.
Die Puppen stehen ursprünglich für Dämonen, Hexen und alle anderen bösen Dinge, die einem im neuen Jahr nicht mehr heimsuchen sollen. Heute wird der brachiale Brauch eher humoristisch praktiziert. Für die Sujets der Puppen müssen oft die Gesichter von Politikern oder anderen Personen der Öffentlichkeit hinhalten.
1909 soll es in Spanien eine sehr ertragreiche Traubenernte gegeben haben. Das ganze Jahr wurden Trauben gegessen. Und so entstand die Tradition, an Silvester um Mitternacht pro Glockenschlag eine Traube zu essen. Wer es schafft, alle Trauben bis zum letzten Glockenschlag zu verzehren, dem sei grosses Glück fürs neue Jahr versichert.
Aber nicht jede Traubensorte verspricht dieselbe abergläubische Wirkung. Nur den Vinalopo Trauben trauen die Spanier die magische Kraft zu. Der Ort ist im Gegensatz zur Sorte für das Traubenschluckritual nebensächlich. Ob an einer Strandparty, im Nachtclub oder zuhause am Esstisch: Für ganz viele Spanierinnen und Spanier sind die 12 Trauben ein Muss für jeden Silvesterrutsch.
Die Einwohner der philippinischen Inseln haben am letzten Tag des Jahres einen harten Job. Unzählige Kleinigkeiten müssen beachtet werden, damit man sich im neuen Jahr nach potenziellem Glück sehnen darf.
Alle Türen und Fenster müssen geöffnet, jegliche Lampen angezündet sein. Auf die Fensterbretter und in alle Hosen- und Jackentaschen kommen Münzen. Für Glück und Gesundheit muss während des Silvesteressens ein Korb mit zwölf runden Früchten auf dem Tisch stehen und an die Tür wird eine Weintraubenkette gehängt, die bis zum nächsten Silvester dort bleiben muss.
Zum Teil springen Philippinerinnen und Philippiner an Silvester immer wieder in die Luft, weil es heisst, dass man dadurch grösser wird.
In Rumänien ist es Tradition, dass Kinder sich ein kleines Lamm unter den Arm packen, damit die Strasse runterlaufen und sich dafür bezahlen lassen, dass sie ihr Lamm für eine Streicheleinheit zur Verfügung stellen.
Was das bringen soll? Glück, natürlich!
In Bulgarien prügelt man sich das Glück aus dem Rücken. Im ganzen Land finden kleine «BDSM»-Sessions im familiären Rahmen statt. Natürlich ist BDSM ein bisschen übertrieben, weil es sich bei diesem Neujahrsbrauch nicht um eine Sexualpraktik handelt, sondern um eine sozial anerkannte Tradition.
Trotzdem mutetet das Ritual für Fremde etwas anrüchig an: Aus einem Ast des Kornelkirschbaums fertigen die Bulgaren eine mit Farbe verzierte Peitsche namens «Surwatschka» an. In der Silvesternacht und am Neujahrstag gehen Kinder von Haus zu Haus und schlagen damit die Bewohner auf den Rücken. Dabei wünschen sie nach alter Tradition ein gesundes, glückliches, fruchtbares und reiches neues Jahr. Dafür bekommen sie kleine Geschenke wie Bonbons, Kuchen, Früchte oder Kleingeld.
In grossen Teilen Australien feiert man das neue Jahr ganze 13 Stunden vor uns. Vielleicht ist es dieser zeitliche Vorsprung, der die Australierinnen und Australier in der Silvesternacht so wahnsinnig enthemmt.
Hier küsst man sich nämlich exzessiv. Möglichst viele Küsse von möglichst vielen Menschen ist das Ziel.
Während in vielen Ländern Bleigiessen ein gängiges Silvesterritual ist, bei dem man in die eigene Zukunft vorausschauen kann, machen sich die Tschechen nur ungern die Hände schmutzig. Auf jeden Fall nicht für ein bisschen Wahrsagerei. Denn das kann man ja auch ganz einfach mit einem Apfel tun.
Genau, in Tschechien lesen sich die Menschen an Silvester gegenseitig ihr Schicksal aus einem Apfel.
Bilden die Kerne einen Stern, hat man das Glück auf seiner Seite. Bilden sie aber ein Kreuz, begleitet einen fürs nächste Jahr das Pech.
Natürlich gibt es auch Länder, die das alte und neue Jahr nicht in der Nacht vom 31. Dezember auf den ersten Januar zelebrieren. In Thailand beispielsweise, aber auch in China und anderen südostasiatischen Ländern, orientiert sich das Neujahrsfest an den traditionellen Mondkalendern. Im Falle Thailands sind dies die Tage zwischen dem 13. und dem 15. April. Dann findet das dreitägige Songkran-Fest statt.
Anders als bei den meisten anderen Neujahrsfesten ist das Songkran-Fest nicht das Ende der jährlichen Mondzählung. Diese findet nämlich schon zwischen November und Dezember statt. Das thailändische Silvester findet demnach also erst im fünften Monat des Jahres statt.
Trotzdem geht es bei Songkran um genau dasselbe wie bei all den hier besprochenen Neujahrsbräuchen: Um Glück für's neue Jahr.
Die Thailänderinnen und Thailänder versuchen dieses Glück mit ganz viel Wasser heraufzubeschwören. Massakerhafte Wasserschlachten finden auf den Strassen satt. Alle Wohnungen, Buddha-Statuen und Möbel werden grosszügig mit ganz viel Wasser geputzt und um diese Reinlichkeit besonders sichtbar zu machen, bepudern sich die Thais ihre Gesichter mit einer ordentlichen Portion Babypuder.
(jin, ange)