Wer kennt's nicht: Man muss unbedingt eine wichtige Arbeit zu Ende bringen, aber dann herrscht auf dem Desktop ein riesiges Durcheinander, das unbedingt jetzt aufgeräumt werden muss. Prokrastination oder Aufschieberitis heisst dieses Phänomen und Oliver Kaftan weiss genauestens darum Bescheid.
Herr Kaftan, was bedeutet dieses Wort, das man fast immer zwei Mal aussprechen muss, bis es richtig rauskommt? Was bedeutet Prokrastination?
Oliver Kaftan: Das Wort kommt aus dem Lateinischen und kann in die Wörter «pro» und «cras» zerteilt werden. Ersteres bedeutet «für», Letzteres «morgen». Im Deutschen ist eher der Begriff «Aufschieberitis» verbreitet; vielleicht gerade wegen der heimtückischen Zungenbrechergefahr, die hinter dem Wort Prokrastination schlummert.
Aufschieberitis und Prokrastination heisst also, dass man Dinge nicht erledigt. Wieso nennen wir das nicht einfach Faulheit?
Beim Prokrastinieren entscheidet man sich freiwillig gegen eine Tätigkeit, obwohl man mit negativen Konsequenzen rechnet. Faulheit kann auch genossen werden, ohne ein schlechtes Gefühl gegenüber der Zukunft zu haben.
Tönt kompliziert.
Ist es auch. Aber hier ein Beispiel: Du musst Alu, PET und Glas entsorgen. Aber du hast keine Lust. Es spielt keine Rolle, ob du es heute oder morgen tust. Der Weg bis zur Entsorgungsstelle wird gleich lang sein und die Menge an Leergut wird bis zum Folgetag kaum zunehmen. Du kannst dir aber vorstellen, dass du morgen weniger müde bist, mehr Tatendrang verspürst oder sich die Konditionen anderweitig verbessern. Dann ist dein Entscheid zu faulenzen aus vernünftigen Gründen getroffen worden. Und du machst dir auch keine Gedanken über allfällige negative Konsequenzen.
Was wäre denn ein Beispiel für «richtige» Aufschieberitis?
Bleiben wir beim Beispiel vom Leergut. Wenn du jetzt wüsstest, dass heute Abend bei dir noch eine Party gefeiert wird und infolgedessen die Alu-Sammlung überfüllt sein wird und du morgen ohnehin noch viel Aufräumarbeit zu leisten hast, dann wäre es vernünftig, diese Arbeit heute schon zu verrichten. Tust du es trotzdem nicht, prokrastinierst du.
Aber das tun wir doch alle, nicht?
In der Tat ist Prokrastination ein weit verbreitetes Phänomen. Leider gibt es keine systematischen Studien, die seine Verbreitung belegen. Es kursieren jedoch Zahlen, welche bei neun von zehn Menschen gelegentliches, aber noch gemässigtes Prokrastinieren feststellen. Bei etwa 15 Prozent davon kann die Prokrastination zu ernsthaften Problemen führen.
Wie weit kann das gehen?
Bis zu schwerwiegenden Depressionen und der Unfähigkeit, den Alltag zu meistern. Als ich eine Zeit lang in einer Klinik gearbeitet habe, gab es da einen Patienten, der jeden Tag das Anziehen aufgeschoben hat. Solche Formen der Prokrastination können zur Isolation der Betroffenen führen und schliesslich sogar bis zum Zusammenbruch des sozialen Umfelds gehen.
Wieso tut man sowas?
Zwei häufige Gründe sind Versagensängste und Ablenkung durch unmittelbare belohnende Tätigkeiten.
Zum Beispiel erzeugt der Gedanken an die Seminararbeit, die in zwei Wochen abgegeben werden muss, ein mulmiges Gefühl im Bauch. Wo hingegen witzige Tiervideos auf den endlosen Timelines sozialer Netzwerke angenehm unterhalten. Entsprechend gibt man dem unmittelbaren angenehmen Gefühl den Vorzug vor dem mulmigen Gefühl.
Interessanterweise kann Prokrastination Tätigkeiten, die man sonst auch überhaupt nicht gerne macht, plötzlich attraktiv wirken lassen. Statt die Seminararbeit zu schreiben, will man plötzlich unbedingt die Küche aufräumen, neu organisieren und gründlichst reinigen. Das gibt den Aufschiebern schliesslich ein gutes Gefühl, das sie von den negativen Konsequenzen, die die Aufschieberitis bergen soll, teilweise ablenkt.
Viele Sagen doch, dass sie unter Druck besser arbeiten können …
Das ist in den meisten Fällen ein Trugschluss. Viele Menschen bilden sich ein, dass Stress ihnen zu besseren Leistungen verhilft. Studien belegen jedoch, dass Menschen, die früher mit einer Arbeit beginnen, in der Regel besser abschneiden.
Wieso ist diese Erklärung trotzdem so prominent?
Das kann eine Art Selbstwertschutz sein und somit wieder eine Form der Prokrastination. Wenn man spät damit beginnt, für eine Prüfung zu lernen, und es dann doch schafft, fühlt man sich bestärkt. Fällt man in diesem Fall durch die Prüfung, kann man sein Scheitern mit dieser Strategie immer noch gut vor sich selber rechtfertigen: «Ich hab halt erst spät mit dem Lernen begonnen», sagt man sich dann und muss sich nicht grundsätzlich in Frage stellen. Im Fachjargon nennt man dies «self-handicapping».
Ich fasse zusammen: Prokrastination ist ein freiwilliger, irrationaler Entscheid gegen eine Tätigkeit, deren Nichterfüllen in uns die Erwartung nach negativen Konsequenzen weckt. Für mich klingt das sehr nach Westen, Leistungsgesellschaft und «First World Problem».
Ja. Wie gesagt, eine wichtige Voraussetzung für Prokrastination ist Freiwilligkeit. Die gibt es in unseren Breitenkreisen und vor allem auch im aktuellen Zeitalter bestimmt mehr als anderswo und -wann. Der Fakt, dass unsere Gesellschaft sehr leistungsorientiert ist, fördert die Versagensangst und somit auch Prokrastination natürlich zudem. Und auch die Omnipräsenz von digitalen Geräten mit Internetzugang steigert wegen ihres Ablenkungspotentials die Lust nicht zu tun, was man sollte.
Wie können wir dem entgegenwirken?
Wenn die Aufschieberitis dazu führt, dass man seinen Alltag nicht mehr meistern kann, wäre professionelle Hilfe bestimmt kein schlechter Gedanke.
Und wenn's nicht so schlimm ist?
Ansonsten heisst es, wie bei jedem persönlichen Problem, den individuellen Gründen auf die Spur zu kommen. Wenn Ängste das Problem sind, kann beispielsweise ein gutes Zeitmanagement helfen: Zwischenziele setzen, bei deren Erreichung man jeweils ein kleines Erfolgserlebnis feiern kann. Das wiederum Sicherheit und Antrieb liefert und Versagensängste relativiert. Auch die Erinnerung an vergangene ähnliche Situationen, die man erfolgreich gemeistert hat, kann helfen. Scheitert man trotzdem, ist das meistens besser als es gar nicht richtig versucht zu haben, da man aus Fehlern lernen kann.
Des Weiteren haben wir ja auch über Ablenkung gesprochen. Man kann zum Beispiel auch mal die Push-Nachrichten auf dem Smartphone für eine Zeitlang ausstellen oder gewisse Webseiten blockieren.
Für mich klingt das alles ein bisschen nach Verteufelung der Spontanität. Ist das so, sind spontan sein und nicht prokrastinieren unvereinbar?
Ein bisschen. Klar, wenn man sich nonstop die Freiheit zum Spontansein erlaubt, ist die Chance der Prokrastination zu verfallen bedeutend höher. Da die Aufschieberitis aber auch meistens mit einem Unbehagen verbunden ist, kann es sein, dass das spontane Vorhaben nicht stressfrei genossen werden kann. So ist die Chance grösser in einen Teufelskreis, gezeichnet von permanentem Stress, zu fallen. Teilt man sich Arbeits- und Freizeit jedoch besser ein, ist die Zeit, in der man der Spontanität frönen darf, viel entspannter. Und der Kopf frei von mühsamen Punkten auf der gedanklichen To-do-Liste.
Achtung, diese Bilder könnten deine Aufschieberitis fördern :-}