So schauts Klaus

Sotschi – die Stadt, die ihre eigenen Winterspiele vergisst

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Wo bleibt die Euphorie?

Sotschi – die Stadt, die ihre eigenen Winterspiele vergisst

Stellen Sie sich vor, es sind Olympische Spiele in Ihrer Stadt und keinen kümmert es. Genau so ist es in diesen Tagen in Sotschi.
15.02.2014, 06:4215.02.2014, 17:00
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Sotschi 2014. Die Spiele in Sotschi. Keine Sendung, keine Story ohne die Namensnennung. Dabei ignorieren die Menschen in der Stadt, die den Winterspielen von 2014 den Namen gibt, das olympische Spektakel weitgehend.

Die Stadt am Schwarzen Meer

Nehmen wir an, der Schreibeigene eines Medienunternehmers fasst den Auftrag, in diesen Tagen nach Sotschi zu reisen und herauszufinden, was dort eigentlich los ist. Wohlverstanden: In die Stadt Sotschi am Schwarzen Meer. Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014.

Der betreffende Reporter weiss nichts von den Winterspielen 2014. Ihm wird nur mitgeteilt, dort in der Stadt am Schwarzen Meer müsse irgendetwas von grösster Wichtigkeit im Gange sein. Die Sicherheitsvorkehrungen seien angeblich gross, und es sei nicht auszuschliessen, dass er in ein paar Gewehrläufe blicken werde. Er solle nicht erschrecken, wenn er sich in einer schwer bewaffneten Festung wiederfinde.

Am Bahnhof in Sotschi ist während der Spiele nicht viel los.
Am Bahnhof in Sotschi ist während der Spiele nicht viel los.Bild: AP/AP

Mit dem Zug ins Zentrum der Spiele

Ich blende also alles aus, was ich über Sotschi gehört und gelesen habe und mache mich im Sonntagsgewand auf dem Weg. Sozusagen als Tourist. Mit der Eisenbahn. So müsste es am einfachsten möglich sein, herauszufinden, was los ist. Der Bahnhof liegt ja in der Regel in Zentrumsnähe (so ist es auch), und von dort aus werde ich an den Meeresstrand und zurück laufen. Sotschi ist ja ein beliebter Bade- und Urlaubsort. Die «Riviera» Russlands.

Bei der Ankunft ist am Bahnhof nicht viel los. Der Zug nach Sotschi war praktisch leer. Nichts deutet auf ein Grossereignis hin. Beim Bahnhof sehe ich zwar die fünf Olympischen Ringe. Aber die sieht man auf diesem Planeten an vielen Orten.

Das Leben nimmt in Sotschi seinen gewohnten Gang. Nichts scheint hier den Alltag zu stören. Was könnte denn los sein? Das herauszufinden, dürfte nicht so schwer sein. Schliesslich ist diese Stadt mit nicht einmal einer halben Million Einwohner überschaubar.

In Sotschi nimmt das Leben seinen üblichen Lauf.Bild: Reuters

Küstenidylle bei 20 Grad

In den vielen kleinen Läden fällt kein Souvenir auf. Alles Mögliche gibt es zu kaufen. Die Menschen tragen weder festliche Gewänder noch Fanmonturen. Erhöhte Sicherheit? Nein. Zwar begegnen mir ab und zu die schwarzen Raben des Sicherheitsdienstes. Aber viele von ihnen tragen Einkaufstüten oder haben das Käppi auf Durst gestellt. Sie wirken eher wie Clowns einer Diktatur.

Ach, Sotschi am Schwarzen Meer ist schön. Die Küstenlinie mahnt ein wenig an den Pazifik ob Los Angeles. Die Vegetation und der morbid-nostalgische Charme der alten Gebäude an Stresa, den Kurort am Langensee. Nur fehlen die exzellenten piemontesischen Beizen und die Boromäischen Inseln vor der Küste. 

Die Schäbigkeit in Gebäuden und in der Kleidung der Menschen – der herbe Charme des untergegangenen Sozialismus – ist noch nicht ganz vertrieben und verlüftet. Aber im wunderbaren Klima – es ist fast 20 Grad – stört das nicht.

Ein schlafender Sommerkurort

Aber was könnte hier los sein? Fahnen oder Plakate, die auf eine besondere Veranstaltung hinweisen, sehe ich weit und breit keine. Ich spaziere am Fluss entlang und dann durch einen Park zum Ufer des Schwarzen Meeres. Nicht viel ist los. Die meisten kleinen Beizen sind noch geschlossen. Ein schlafender Sommerkurort. 

Doch, jetzt sehe ich ein Bürogebäude. Hier könnte ich offensichtlich Tickets für eine Wintersportveranstaltung kaufen. Fotos von Wintersportlern und eine Aufschrift «Sotschi 2014» lassen es vermuten. Wintersport? Hallo? Sicher nicht jetzt und hier. Wahrscheinlich sind diese Tickets für eine Veranstaltung irgendwo in Russland. Russland ist gross, der Zar ist weit und an vielen Orten ist es wohl immer bitter kalt. Da wird ja nicht ausgerechnet in der Stadt Sotschi jemand auf den Gedanken gekommen sein, Wintersport zu veranstalten.

Kein Vergleich mit Vancouver 2010

Nein, Olympische Spiele können es hier in Sotschi auf gar keinen Fall sein. Ich habe Vancouver 2010 noch in bester Erinnerung. Da rockte und rollte, vibrierte, ja bebte eine ganze Stadt vor Wintersportbegeisterung. Die Begeisterung für den Sport, für die Olympischen Spiele war auf Schritt und Tritt und bei jeder Begegnung mit den Menschen der Stadt spürbar. Und an den Gebäuden, in den Läden und Restaurants sichtbar: Fahnen, Transparente, Plakate. 

Aber an diesem Tag in Sotschi habe ich am Strand mehr Menschen in Badehosen gesehen als in der Stadt solche, deren Kleider einen Zusammenhang mit Wintersport vermuten lassen. Und ein Wintersportgeschäft habe ich auch nicht gefunden.

Die olympische Flamme brennt vor sich hin.
Die olympische Flamme brennt vor sich hin.Bild: Freshfocus

Ich habe in Sotschi am Schwarzen Meer einen wunderbaren Tag verlebt. In die Sonne geblinzelt und das Meer geschaut. Aber ich habe nicht herausgefunden, was hier los ist. Also nehme ich wieder die Eisenbahn und fahre zurück in den Olympischen Park. Die Fahrt dauert nicht ganz eine Stunde. Ein bisschen bin ich irritiert. Ich muss vor dem Eintritt in den Bahnhof durch die gleiche Sicherheitskontrolle gehen wie am Flughafen.

Ein Olympia-Park wie Disneyland

Beim Verlassen des Bahnhofes beim Olympischen Park schweift der Blick über die Eissportanlagen. Ein phantastisches Bild. Es gibt weltweit keine eindrücklicheren Sportanlagen als der Olympische Park hier unten am Meer bei Sotschi. Dieses Eissport-Disneyland, ein Park mit allen Anlagen für den Eissport, hat es so noch nie gegeben und wird es vielleicht auch nie mehr an einem anderen Ort geben.

So etwas ist nur in einer «gelenkten Demokratie» ohne Oppositions- und Baueinsprachen-Kultur und ohne Budgetkontrolle im grossen, mächtigen Russland Wladimir Putins möglich. Und nun wird mir auch klar: Diese Spiele sind im Grunde ein potemkinsches wintersportliches Dorf und haben mit Sotschi überhaupt nichts zu tun.

Das gewaltigste Potemkinsche Dorf

Für den Leser, der mit der faszinierenden russischen Geschichte nicht so vertraut ist, hier eine Erklärung: Grigori Potemkin, der Günstling (und Liebhaber) der russischen Zarin Katharina II liess 1787 vor dem Besuch seiner Herrscherin in einem neu eroberten Gebiet entlang der Wegstrecke Dörfer aus bemalten Kulissen zum Schein errichten. Um das wahre Gesicht der Gegend zu verbergen. Deshalb wird heute etwas, das fein herausgeputzt wird, um die tatsächlichen Verhältnisse zu zu verbergen und die Welt zu beeindrucken, ein Potemkinsches Dorf genannt.

Der Olympia-Park sieht bei Nacht einfach fantastisch aus.
Der Olympia-Park sieht bei Nacht einfach fantastisch aus.Bild: Getty Images Europe

Es ist allerdings das gewaltigste Potemkinsche Dorf, das je gebaut worden ist. Immerhin betragen die Kosten für die Olympischen Bauten und Infrastrukturen geschätzte 50 Milliarden Franken. Mit dem tatsächlichen Sotschi, dem Land, der Kultur, haben diese Wintersportanlagen nichts zu tun. Die Menschen in Sotschi werden sich nie für Wintersport interessieren. Ebenso könnten die Winterspiele in Katar oder Namibia veranstaltet werden.

Ich kehre zurück in die Schreibstube. Als Arbeitstitel fällt mir, inspiriert von Erich Maria Remarque ein: «All quiet on the Sotschi-Front.» In Sotschi nichts Neues. Oder in Anlehnung an einen Spruch, der fälschlicherweise Bertold Brecht zugeschrieben wird («Stell Dir vor, es kommt Krieg und keiner geht hin»): Stell dir vor, es sind Olympische Spiele in deiner Stadt und keinen kümmert es.

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