In Europa kannten ihn nur wenige. In den USA war Orenthal James Simpson ein Star. Nach einer erfolgreichen Football-Karriere war der blendend aussehende O. J., wie er genannt wurde, als Schauspieler und Werbeträger tätig. Vor 20 Jahren begann sein tiefer Fall: Seine Ex-Frau Nicole und ein Freund von ihr wurden ermordet. Alle Indizien deuteten auf den damals 46-jährigen O. J. Simpson als Täter. Er lieferte sich mit der Polizei eine Verfolgungsjagd, die das gleichzeitig stattfindende Eröffnungsspiel der Fussball-WM in Chicago in den Schatten stellte.
Der Prozess gegen Simpson endete mit einem sensationellen Freispruch. Amerikas «Verbrechen des Jahrhunderts» riss tiefe Gräben auf zwischen Schwarz und Weiss, es machte zahlreiche Beteiligte zu Kurzzeit-Berühmtheiten. Fast jeder, der auch nur am Rand involviert war, schrieb darüber ein Buch. Die US-Fernsehsender berichteten beinahe rund um die Uhr. Bis heute wühlt der Fall die USA auf, denn bewiesen wurde O. J. Simpsons Schuld nie. Eine Chronologie:
Kurz nach Mitternacht werden in einem Vorgarten in Brentwood, einem Quartier von Los Angeles, die Leichen von Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman entdeckt. Sie waren mit Dutzenden Messerstichen regelrecht abgeschlachtet worden. Die Spuren am Tatort deuten auf Nicoles Ex-Ehemann O. J. Simpson als Täter hin. Er hatte Nicole 1985 geheiratet und mit ihr zwei Kinder. Der krankhaft eifersüchtige O. J. verprügelte seine Frau regelmässig. Die Ehe wurde im Oktober 1992 geschieden, doch Simpson stellte seiner Ex-Frau weiterhin nach. Goldman, ein Kellner, der mit Nicole befreundet war und auf den Durchbruch als Schauspieler hoffte, war möglicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort. Er wollte Nicole eine vergessene Sonnenbrille vorbei bringen.
Die Staatsanwaltschaft erlässt einen Haftbefehl gegen O. J. Simpson. Er versucht zu fliehen. Am Abend entdeckt die Polizei auf einem Freeway seinen weissen Ford Bronco. Am Steuer sitzt A. J. Cowlings, Simpsons bester Freund und ehemaliger Teamkollege. Der Gesuchte befindet sich auf dem Rücksitz, er hat eine Pistole und äussert in einem Telefonat mit einem Polizisten Selbstmordgedanken. Es kommt zu einer «Verfolgungsjagd» fast im Schritttempo, die im Fernsehen live übertragen wird. Nach der Rückkehr in seine Villa ergibt sich Simpson.
Sein Freund Robert Kardashian verliest am gleichen Tag einen «Abschiedsbrief», in dem Simpson seine Unschuld beteuert und gleichzeitig einen Suizid andeutet. Kardashian ist der Vater von Kim Kardashian und ihren Geschwistern – einer von vielen bizarren Aspekten des Falles. Angehörige der Opfer behaupten, er habe Simpson bei der Beseitigung seiner blutbefleckten Kleider geholfen.
In Los Angeles beginnt der Strafprozess gegen O. J. Simpson. Er erklärt sich «absolut zu 100 Prozent für nicht schuldig». Unter den zwölf Geschworenen befinden sich acht Schwarze, ein Latino und nur ein Weisser. Das Verfahren dauert mehr als acht Monate und wird vollumfänglich live übertragen. Jeder Aspekt wird intensiv diskutiert, bis zur Frisur der Anklägerin Marcia Clark.
Ein Paar blutbefleckte Handschuhe wird zum Knackpunkt des Prozesses. Der eine wurde am Tatort gefunden, der andere beim Gästehaus von Simpsons Villa. Doch als der Angeklagte sie anzieht, erweisen sie sich als zu klein – für Chefverteidiger Johnnie Cochran der Beweis für Simpsons Unschuld. Die Anklage behauptet, O. J. Simpson, der an Arthritis leidet, habe seine Medikamente nicht eingenommen, deshalb seien seine Hände geschwollen gewesen.
2012 beschuldigte einer der damaligen Staatsanwälte die Verteidigung, sie habe die Handschuhe in der Mittagspause manipuliert. Als Simpson im späteren Prozessverlauf ein identisches, aber brandneues Paar anprobiert, sitzen die Handschuhe wie angegossen.
Die Urteilsverkündung endet mit einer Sensation: Die mehrheitlich schwarzen Geschworenen befinden O. J. Simpson für nicht schuldig. Das Verdikt spaltet die Nation: Während die Schwarzen jubeln, sind die weissen Amerikaner erzürnt. Johnnie Cochran spielte im Prozess gezielt die Rassenkarte. So konnte er nachweisen, dass Mark Fuhrman, einer der ermittelnden Polizisten, Schwarze regelmässig «Nigger» genannt hatte. Im Plädoyer verglich Cochran ihn mit Hitler.
In einer Studie von 2012 kam die Urteilsverkündung im Fall Simpson auf Platz 3 der wichtigsten TV-Ereignisse der letzten 50 Jahre, hinter dem 11. September 2001 und Hurrikan Katrina.
Beginn des Zivilprozesses gegen O. J. Simpson. Die Angehörigen von Nicole Brown und Ronald Goldman verklagen ihn auf Schadenersatz, weil er den Tod der beiden verschuldet habe. Im Zivilverfahren sind die Anforderungen tiefer, und die Geschworenen sind mehrheitlich weiss. Kameras sind nicht zugelassen. Simpson, der im Strafverfahren geschwiegen hat, muss erstmals aussagen. Er bestreitet den Doppelmord, kann die Indizien, die gegen ihn sprechen, aber nicht erklären.
Die Geschworenen verurteilen O. J. Simpson zur Zahlung von 33,5 Millionen Dollar. Er weigert sich, worauf seine Villa und die meisten seiner Besitztümer versteigert werden. Ein christlich-konservativer Radiomoderator ersteigert mehrere seiner Football-Auszeichnungen und verbrennt sie öffentlich.
O. J. Simpson gerät wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt, unter anderem wegen einer Schlägerei und zu schnellen Fahrens. Zu einer Verurteilung kommt es nie. Dann geschieht eine neue absurde Wendung: In einem Hotelzimmer in Las Vegas überfällt Simpson mit einigen Männern einen Händler von Fanartikeln. Er besitzt frühere Auszeichnungen von Simpson. Mit vorgehaltener Waffe erzwingen sie die Herausgabe. Simpson wird verhaftet. Er bestreitet den Überfall und behauptet, die Auszeichnungen seien ihm gestohlen worden.
Auf den Tag genau 13 Jahre nach seinem Freispruch im Mordfall Brown/Goldman wird O. J. Simpson wegen bewaffnetem Raubüberfall zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt. Für viele Amerikaner ist es eine Art von später Gerechtigkeit. Sein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wird im Mai 2013 abgelehnt. Frühestens 2017 kann Orenthal James Simpson eine Freilassung auf Bewährung beantragen. Er wird dann 70 Jahre alt sein.