Im Streit um die Altersvorsorge 2020 sind die Fronten verhärtet. National- und Ständerat halten verbissen an ihrem jeweiligen Modell fest, mit dem sie die Senkung des Umwandlungssatzes in der 2. Säule kompensieren wollen. Was die Waadtländer FDP-Nationalrätin Isabelle Moret in Rage versetzt: «Es kann nicht sein, dass eine Migros-Kassiererin ein Jahr länger arbeitet, um die höhere Rente für vermögende Herren zu finanzieren», sagte sie der Zeitung «Nordwestschweiz».
Moret bezog sich auf den Ständerat, der Neurentnern einen Zuschlag von 70 Franken bei der AHV gewähren will. Während die Mehrheit des Nationalrats den Koordinationsabzug abschaffen will, damit die Versicherten mehr Geld in die Pensionskasse einzahlen können. In der Debatte am Dienstag legte Isabelle Moret nach: Die Kassiererin müsse länger arbeiten, damit Bundesrat Alain Berset eine um 70 Franken höhere Rente erhalte: «Das ist nicht gerecht.»
Ihre süffige Analogie hat einen Haken: Die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre ist gerade bei der FDP unbestritten. Dennoch wiegt der Vorwurf schwer: Müssen Tieflöhnbezüger – viele davon Frauen – dafür blechen, dass ein Millionär (oder Bundesrat) 70 AHV-Franken erhält, die er gar nicht braucht? Die Zürcher Freisinnige Regine Sauter rieb dies im Nationalrat der Gegenseite unter die Nase: «Die Frauen bezahlen den Rentenzuschlag, den Sie, liebe Ratslinke, beschliessen.»
Ein happiger Vorwurf, doch Widerspruch erhalten die beiden FDP-Nationalrätinnen ausgerechnet von einer Parteikollegin, der ehemaligen Aargauer Ständerätin Christine Egerszegi. Die ausgewiesene Sozialpolitikerin hatte vor ihrem Rücktritt 2015 aktiv am Ständerats-Modell mitgearbeitet. Als Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für die berufliche Vorsorge ist sie weiterhin in die Thematik involviert. Mit dem Beispiel der Kassiererin kann sie wenig anfangen.
Im Prinzip begrüsst Egerszegi die Abschaffung des Koordinationsabzugs: «Auf den ersten Blick ist das sehr positiv, alle können eine zweite Säule aufbauen. Bei näherer Betrachtung aber hat diese Lösung gewaltige Nachteile.» Wirklich profitieren könnten nur die Jungen, meint Egerszegi und nennt als Beispiel eine 45-jährige Coiffeuse, die nie oder nur wenig in die berufliche Vorsorge einbezahlt hat. Mit dem Nationalrats-Modell wären 13,5 Lohnprozente für die 2. Säule fällig.
«Sie muss einen beträchtlichen Teil ihres kleinen Einkommens abgeben, ohne gross profitieren zu können», sagt die frühere Ständerätin. Denn mit 45 Jahren hat die Coiffeuse kaum eine Chance, eine substanzielle Pensionskassen-Rente zu beziehen. Ein ähnliches Beispiel erwähnte die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel in der Debatte am Dienstag. Eine Kassiererin im Alter von 44 Jahren mit einem Einkommen von 55'000 Franken hätte nach dem Nationalratsmodell eine Mehrbelastung von 7,8 Prozent. Beim Ständerat wären es laut Humbel 1,9 Prozent.
Das Nationalratsmodell belastet Geringverdiener – auch Junge – somit durch hohe und schmerzhafte Lohnabzüge. Für manche Kassiererin dürfte der 70-Franken-Zuschlag bei der AHV das kleinere Übel sein, selbst wenn Millionäre oder Bundesräte davon profitieren. Einen weiteren Aspekt erwähnen die SP-Frauen in einem Communiqué: «40 Prozent der Frauen haben keine 2. Säule, für sie ist die Erhöhung der AHV-Renten um 70 Franken pro Monat essentiell.»
Dennoch proben gerade linke Frauen den Aufstand gegen die Rentenreform. Sie stossen sich an der Erhöhung des Rentenalters, die auch die SP-Frauen als «bittere Pille» bezeichnen. Dabei nehmen sie auch eine Konfrontation mit den Linken im Parlament in Kauf, wie der «Tages-Anzeiger» berichtet.
In der Westschweiz wird das Referendum vorbereitet. Christine Egerszegi ist nicht überrascht. Sie verteidigt das gleiche Rentenalter für Mann und Frau als Voraussetzung für eine Flexibilisierung: «Damit kann jeder den Rückzug aus dem Arbeitsleben selber gestalten.»
Vom Ständeratsmodell ist die Aargauer Freisinnige nach wie vor überzeugt, es sei «in sich stimmig». Seine Chancen im parlamentarischen Tauziehen sind intakt. Es ist absehbar, dass im Nationalrat am Ende genügend «Abweichler» auf die 70 Franken umschwenken werden, insbesondere Grünliberale und Bauernvertreter. Weil das Referendum so gut wie feststeht, muss danach das Volk überzeugt werden – sowohl die Kassiererin wie der Millionär.