Der Abend in einem Berner Restaurant war gemütlich, das Essen schmackhaft. Eine Delegation von Politikern und Medienleuten aus Österreich besuchte Ende November die Schweiz. Auf dem Programm stand auch ein Nachtessen mit Schweizer Journalisten, zu dem der Verfasser dieser Zeilen eingeladen war. Die Reise sollte die Gäste aus unserem östlichen Nachbarland mit dem politischen System der Schweiz vertraut machen, insbesondere der direkten Demokratie.
Das Thema war aus österreichischer Sicht von grosser Aktualität. Die neue rechte Regierung will explizit die direkte Demokratie stärken. Aussenminister Ignazio Cassis warnte die Österreicher beim Besuch in Wien Anfang Dezember vor einer Übernahme nach dem Vorbild der Schweiz. Man dürfe «nicht denken, dass direkte Demokratie ein Kinderspiel ist». Beim Nachtessen in Bern kamen ähnliche Bedenken zur Sprache.
Dabei ging es weniger um die Ängste vor populistischen Reflexen, die sich in Volksentscheiden manifestieren, mit denen «ein Zeichen gesetzt» werden soll. Sondern um die Frage, wie weit die direkte Demokratie mit der Komplexität der heutigen Politik noch kompatibel ist.
2017 kam auf eidgenössischer Ebene keine einzige Volksinitiative zur Abstimmung. Dafür musste das Stimmvolk gleich über drei gewichtige und heftig umstrittene Reformvorhaben befinden. Die Bilanz: Die Unternehmenssteuerreform (USR) III und die Altersvorsorge 2020 gingen bachab. Einzig die Energiestrategie 2050 fand Gnade bei den Stimmberechtigten.
Die Gründe dafür sind sehr verschieden. Die Steuerreform wurde von links, die Rentenreform von rechts zu Fall gebracht. Während sich bei der zweiten Vorlage diverse Gründen zum Nein summierten, fühlten sich viele Leute bei den Unternehmenssteuern ungenügend informiert, weshalb sie gemäss der Voto-Analyse nach der Maxime «im Zweifel ein Nein» abstimmten.
Im Klartext: Die Stimmbürger waren überfordert. Dadurch entstand eine negative Dynamik, im Unterschied zum Energiegesetz, das mit dem Atomausstieg und der Förderung der erneuerbaren Energien eine Botschaft vermittelte, auf die viele Menschen positiv reagierten.
Bei der Neuauflage der USR III mit der Bezeichnung Steuervorlage 17 will man dieser Tatsache Rechnung tragen. Sie soll dem Stimmvolk mit einer Erhöhung der Kinderzulagen «versüsst» werden. Der Widerstand ist im bürgerlichen Lager gross, weil die Wirtschaft dieses «Geschenk» bezahlen müsste. Allerdings hat die Debatte über die neue Reform gerade erst begonnen.
Kaum thematisiert wird hingegen die erwähnte Grundsatzfrage: Kann das Stimmvolk vernünftig über umfangreiche und komplizierte Vorlagen entscheiden? Oder anders gefragt: Ist die Schweiz noch reformierbar? Die direkte Demokratie entstand im Postkutschen-Zeitalter. Niemand konnte damals ahnen, dass das Volk einmal zu Themen wie die pränatale Implantationsdiagnostik oder die zinsbereinigte Gewinnsteuer Stellung nehmen muss.
Eine Debatte über dieses Thema wäre überfällig. Doch sie findet höchstens in akademischen Kreisen statt, etwa unter neoliberalen Ökonomen. Denn die Volksrechte sind zu einem Dogma geworden, sie werden regelrecht tabuisiert. Kaum jemand wagt es, sie ernsthaft in Frage zu stellen. Man will ja nicht den Zorn der SVP und ihrer zugewandten Medien auf sich ziehen.
Das ist bedauerlich, ja bedenklich. In einer funktionierenden Demokratie darf es keine Tabus geben. Doch selbst eine vernünftige Forderung wie die Anpassung der Unterschriftenzahl an das Bevölkerungswachstum wird höchstens ansatzweise diskutiert. Die BDP hat dieses Jahr eine parlamentarische Initiative zu diesem Thema eingereicht. Ihre Erfolgschancen sind überschaubar.
Dabei gäbe es genügend Ansätze für eine Grundsatzdebatte. Dazu gehört die Frage, ob und wie angenommene Volksinitiativen umgesetzt werden. Bei der Masseneinwanderungsinitiative gab das Parlament dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU den Vorrang. Das verabschiedete Gesetz entsprach denn auch nur rudimentär dem Zuwanderungsartikel in der Bundesverfassung.
Wohin das führt, sieht man derzeit in der Debatte über die No-Billag-Initiative. Die Frivolität, mit der die Verfechter der Initiative behaupten, man müsse es im Interesse der SRG mit der Umsetzung ja nicht so genau nehmen, hat etwas Befremdliches. Der Initiativtext spricht eine klare Sprache. Ihn schon vor der Abstimmung zu relativieren, kommt einer Verluderung der Volksrechte gleich.
Zugegeben, es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, wie man mit der direkten Demokratie in Zeiten immer komplexerer Vorlagen und extremerer Forderungen umgehen soll. Eine Einschränkung wäre heikel, denn ihre Vorteile überwiegen klar. Initiativen und Referenden sorgen für eine bürgernahe Politik und stärken die Legitimation des demokratischen Systems.
Folglich bleibt das Dilemma, wie man dem Stimmbürger eine umfangreiche und komplexe Reformvorlage vermitteln soll. Man kann versuchen, sie möglichst mehrheitsfähig auszugestalten (im Fall der ES 2050 ist es gelungen, bei der AV 2020 nicht). Oder man packt ein «Zückerchen» drauf, wie – vielleicht – bei der Zweitauflage der Steuerreform. Oder man versucht, sie in «verdaubare» Portionen aufzuspalten, wie es der Bundesrat beim neuen Anlauf zur Rentenreform vorschlägt.
Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Weshalb letztlich wohl nur eines bleibt: Der Appell an das Verantwortungsgefühl der Stimmberechtigten. Die direkte Demokratie ist «kein Kinderspiel». Diese Binsenweisheit sollte man nicht nur unseren Nachbarn vermitteln. Sondern gelegentlich auch dem eigenen Volk.