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Reformstau in der Schweiz: Quo vadis, direkte Demokratie?

Bundesrat Ueli Maurer, vorne, Bundesraetin Simonetta Sommaruga, hinten Mitte, und Bundespraesidentin Doris Leuthard, hinten rechts, erscheinen zur Medienkonferenz des Bundesrates, am Sonntag, 12. Febr ...
Finanzminister Ueli Maurer auf dem Weg zur Medienkonferenz nach dem Nein zur USR III.Bild: KEYSTONE
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Reformstau in der Schweiz: Ist die direkte Demokratie noch zeitgemäss?

Zwei grosse Reformen scheiterten 2017 in der Volksabstimmung. Ein wichtiger Grund war die Überforderung des Stimmvolks. Daraus ergeben sich heikle Fragen zur direkten Demokratie.
30.12.2017, 10:0230.12.2017, 20:43
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Der Abend in einem Berner Restaurant war gemütlich, das Essen schmackhaft. Eine Delegation von Politikern und Medienleuten aus Österreich besuchte Ende November die Schweiz. Auf dem Programm stand auch ein Nachtessen mit Schweizer Journalisten, zu dem der Verfasser dieser Zeilen eingeladen war. Die Reise sollte die Gäste aus unserem östlichen Nachbarland mit dem politischen System der Schweiz vertraut machen, insbesondere der direkten Demokratie.

Das Thema war aus österreichischer Sicht von grosser Aktualität. Die neue rechte Regierung will explizit die direkte Demokratie stärken. Aussenminister Ignazio Cassis warnte die Österreicher beim Besuch in Wien Anfang Dezember vor einer Übernahme nach dem Vorbild der Schweiz. Man dürfe «nicht denken, dass direkte Demokratie ein Kinderspiel ist». Beim Nachtessen in Bern kamen ähnliche Bedenken zur Sprache.

Oesterreichs AM Sebastian Kurz (l.) und der Aussenminister der Schweiz, Ignazio Cassis, im Rahmen des OSZE-Ministerrates in Wien am Donnerstag, 7. Dezember 2017. (KEYSTONE/APA/HANS PUNZ)
Ignazio Cassis im Gespräch mit dem neuen österreichischen Bundskanzler Sebastian Kurz.Bild: APA

Dabei ging es weniger um die Ängste vor populistischen Reflexen, die sich in Volksentscheiden manifestieren, mit denen «ein Zeichen gesetzt» werden soll. Sondern um die Frage, wie weit die direkte Demokratie mit der Komplexität der heutigen Politik noch kompatibel ist.

2 Nein, 1 Ja

2017 kam auf eidgenössischer Ebene keine einzige Volksinitiative zur Abstimmung. Dafür musste das Stimmvolk gleich über drei gewichtige und heftig umstrittene Reformvorhaben befinden. Die Bilanz: Die Unternehmenssteuerreform (USR) III und die Altersvorsorge 2020 gingen bachab. Einzig die Energiestrategie 2050 fand Gnade bei den Stimmberechtigten.

Die Gründe dafür sind sehr verschieden. Die Steuerreform wurde von links, die Rentenreform von rechts zu Fall gebracht. Während sich bei der zweiten Vorlage diverse Gründen zum Nein summierten, fühlten sich viele Leute bei den Unternehmenssteuern ungenügend informiert, weshalb sie gemäss der Voto-Analyse nach der Maxime «im Zweifel ein Nein» abstimmten.

Im Klartext: Die Stimmbürger waren überfordert. Dadurch entstand eine negative Dynamik, im Unterschied zum Energiegesetz, das mit dem Atomausstieg und der Förderung der erneuerbaren Energien eine Botschaft vermittelte, auf die viele Menschen positiv reagierten.

Abstimmungsplakat aus den Jahr 1898, als darueber abgestimmt wurde, die verschiedenen privaten Schweizer Bahnunternehmen zu verstaatlichen. Am 20 Februar 1898 wurde diese Initiative vom Stimmvolk ange ...
Abstimmungsplakat von 1898 zur Verstaatlichung der Eisenbahnen.Bild: FOTO SERVICE SBB

Bei der Neuauflage der USR III mit der Bezeichnung Steuervorlage 17 will man dieser Tatsache Rechnung tragen. Sie soll dem Stimmvolk mit einer Erhöhung der Kinderzulagen «versüsst» werden. Der Widerstand ist im bürgerlichen Lager gross, weil die Wirtschaft dieses «Geschenk» bezahlen müsste. Allerdings hat die Debatte über die neue Reform gerade erst begonnen.

Tabu aus Angst vor der SVP

Kaum thematisiert wird hingegen die erwähnte Grundsatzfrage: Kann das Stimmvolk vernünftig über umfangreiche und komplizierte Vorlagen entscheiden? Oder anders gefragt: Ist die Schweiz noch reformierbar? Die direkte Demokratie entstand im Postkutschen-Zeitalter. Niemand konnte damals ahnen, dass das Volk einmal zu Themen wie die pränatale Implantationsdiagnostik oder die zinsbereinigte Gewinnsteuer Stellung nehmen muss.

Eine Debatte über dieses Thema wäre überfällig. Doch sie findet höchstens in akademischen Kreisen statt, etwa unter neoliberalen Ökonomen. Denn die Volksrechte sind zu einem Dogma geworden, sie werden regelrecht tabuisiert. Kaum jemand wagt es, sie ernsthaft in Frage zu stellen. Man will ja nicht den Zorn der SVP und ihrer zugewandten Medien auf sich ziehen.

Zankapfel Umsetzung

Das ist bedauerlich, ja bedenklich. In einer funktionierenden Demokratie darf es keine Tabus geben. Doch selbst eine vernünftige Forderung wie die Anpassung der Unterschriftenzahl an das Bevölkerungswachstum wird höchstens ansatzweise diskutiert. Die BDP hat dieses Jahr eine parlamentarische Initiative zu diesem Thema eingereicht. Ihre Erfolgschancen sind überschaubar.

Nationalraete der SVP halten Plakate mit der Aufschrift "Verfassungsbruch" und "Massenzuwanderung geht weiter" hoch, bei der Schlussabstimmung ueber die Masseneinwanderungsinitiati ...
Die SVP protestiert im Nationalrat gegen die MEI-Umsetzung.Bild: KEYSTONE

Dabei gäbe es genügend Ansätze für eine Grundsatzdebatte. Dazu gehört die Frage, ob und wie angenommene Volksinitiativen umgesetzt werden. Bei der Masseneinwanderungsinitiative gab das Parlament dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU den Vorrang. Das verabschiedete Gesetz entsprach denn auch nur rudimentär dem Zuwanderungsartikel in der Bundesverfassung.

Frivole No-Billag-Anhänger

Wohin das führt, sieht man derzeit in der Debatte über die No-Billag-Initiative. Die Frivolität, mit der die Verfechter der Initiative behaupten, man müsse es im Interesse der SRG mit der Umsetzung ja nicht so genau nehmen, hat etwas Befremdliches. Der Initiativtext spricht eine klare Sprache. Ihn schon vor der Abstimmung zu relativieren, kommt einer Verluderung der Volksrechte gleich.

Zugegeben, es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, wie man mit der direkten Demokratie in Zeiten immer komplexerer Vorlagen und extremerer Forderungen umgehen soll. Eine Einschränkung wäre heikel, denn ihre Vorteile überwiegen klar. Initiativen und Referenden sorgen für eine bürgernahe Politik und stärken die Legitimation des demokratischen Systems.

Das Volk in der Verantwortung

Folglich bleibt das Dilemma, wie man dem Stimmbürger eine umfangreiche und komplexe Reformvorlage vermitteln soll. Man kann versuchen, sie möglichst mehrheitsfähig auszugestalten (im Fall der ES 2050 ist es gelungen, bei der AV 2020 nicht). Oder man packt ein «Zückerchen» drauf, wie – vielleicht – bei der Zweitauflage der Steuerreform. Oder man versucht, sie in «verdaubare» Portionen aufzuspalten, wie es der Bundesrat beim neuen Anlauf zur Rentenreform vorschlägt.

Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Weshalb letztlich wohl nur eines bleibt: Der Appell an das Verantwortungsgefühl der Stimmberechtigten. Die direkte Demokratie ist «kein Kinderspiel». Diese Binsenweisheit sollte man nicht nur unseren Nachbarn vermitteln. Sondern gelegentlich auch dem eigenen Volk.

Ab wann können wir online abstimmen?

Video: srf

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310 Kommentare
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N. Y. P. D.
30.12.2017 10:18registriert Oktober 2015
Im Klartext: Die Stimmbürger waren überfordert.

Da bin ich dezidiert anderer Meinung. Insbesondere, was die USR III betrifft. Sie war unausgewogen und vermutlich war wieder irgendwo auf Seite 426 des neuen Regelwerks ein Merzbombe, bzw. eine Maurerkröte versteckt. Desweitern hat unsere Freundin Eveline gesagt, dass ihre ausgewogene USR III - Fassung verunstaltet wurde.

Ein Hoch auf die Direkte Demokratie. NIE würde ich ein ja für deren Abschaffung einlegen. Never. Auf gar keinen Fall. Völlig ausgeschlossen.
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Deutero Nussuf
30.12.2017 10:18registriert Januar 2016
Was heraus kommen kann, wenn man in einer repräsentativen Demokratie lebt, sieht man grade jetzt sehr schön mit all seinen Schattenseiten in Deutschland.
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Sapere Aude
30.12.2017 10:43registriert April 2015
Die direkte Demokratie ist nicht das Problem, sondern das bestimmte Kräfte seit Jahren eine aktive Spaltung der Bevölkerung betreiben. Durch die Polemisierung der Politik von links und rechts ist diese nicht mehr in der Lage, Vorlagen zu entwickeln, die eine Mehrheit überzeugen können. Wenn die Politik es verlernt hat Kompromisse zu finden, ist dies nicht Schuld des politischen Systems. Die Reaktion der Bevölkerung würde bei einem anderen System einfach anders ausfallen.
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