Die Wortwahl in den Schweizer Zeitungen liess an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: «Die EU versucht, die Schweiz zu erpressen», hiess es am Dienstag auf der Titelseite von «Tages-Anzeiger» und «Bund». In «Luzerner Zeitung» und «St. Galler Tagblatt» lässt Brüssel «die Peitsche knallen». NZZ und «Blick» schreiben, Brüssel wolle die Schweizer Börse «als Geisel nehmen».
Die martialischen Töne zeigen, dass die Schweiz von Brüssel auf dem falschen Fuss erwischt wurde. Und dass das beim Berner Besuch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 23. November proklamierte Tauwetter von kurzer Dauer war. Im Klima zwischen der Schweiz und der Europäischen Union herrschen bereits wieder frostige Temperaturen. Das sind die wichtigsten Punkte:
Um die Äquivalenzanerkennung der Schweizer Börsenregulierung. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich eine für die Schweiz wichtige Massnahme. Am 3. Januar 2018 treten in der EU neue Finanzmarktvorschriften in Kraft. Nur wenn die Schweizer Gesetze als gleichwertig anerkannt werden, darf die Börse weiterhin vollumfänglich am europäischen Aktienhandel teilnehmen.
Ohne diese Anerkennung droht ein beträchtlicher Teil des Handelsvolumens an der hiesigen Börse wegzubrechen. Sie ist deshalb für die Schweiz von grösstem Interesse. Noch Mitte November sah es so aus, als ob der Marktzugang unbefristet gewährt werde. Australien, Hongkong und die USA erhielten einen solchen «Persilschein» letzte Woche. Die Schweiz aber wurde nicht berücksichtigt.
Nun zeigt ein an mehrere Schweizer Medien durchgesickertes Papier der EU-Kommission, dass die Schweizer Börse den vollen Marktzugang vorerst nur befristet auf ein Jahr erhalten soll, mit der Möglichkeit einer Verlängerung. Die EU-Mitgliedstaaten müssen bis Mittwoch 17 Uhr dazu Stellung nehmen. Haben sie keine Einwände, tritt der Beschluss in dieser Form in Kraft.
Brüssel verknüpft die unbefristete Anerkennung mit Fortschritten beim institutionellen Rahmenabkommen. Jean-Claude Juncker liess nach dem Treffen mit Bundespräsidentin Doris Leuthard im November verlauten, man strebe einen Abschluss der Verhandlungen im Frühjahr an. Ein solcher Zeitplan gilt jedoch als sehr ambitioniert, zumal der neue Aussenminister Ignazio Cassis vor seiner Wahl erklärt hatte, er wolle beim Rahmenvertrag die Reset-Taste drücken.
Doris Leuthard hat sich vordergründig Junckers Vorgabe angeschlossen. In Wirklichkeit will die Schweiz das ungeliebte Abkommen – von Juncker «Freundschaftsvertrag» genannt – so weit wie möglich hinausschieben, mindestens bis zum Abschluss der Brexit-Verhandlungen mit Grossbritannien. Als Stolperstein gilt das Verfahren zur Streitschlichtung (Stichwort «fremde Richter»).
Mit dem neusten Druckversuch signalisiert die EU, dass sie die Geduld mit der Schweiz verloren hat. Lange genoss unser Land in Brüssel viel Goodwill. Das hat sich spätestens seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative geändert. Seither hat die EU der Schweizer wiederholt «Nadelstiche» verpasst, etwa bei der verzögerten Aufdatierung des für die Schweizer Wirtschaft wichtigen bilateralen Abkommens über die technischen Handelshemmnisse.
Nicht sehr viele. Die Schweiz habe keinen Anspruch auf die Äquivalenzanerkennung, sagte die Basler Europarechtsprofessorin Christa Tobler auf Radio SRF. Sie ist bei diesem wichtigen Geschäft vollständig auf das Entgegenkommen der EU angewiesen. Entsprechend hilflos wirken die Wortmeldungen aus der Schweizer Politik. Doris Leuthard sagte dem Westschweizer Fernsehen am Montag, sie warte den definitiven Entscheid der EU-Kommission ab.
Falls das Resultat nicht im Sinne der Schweiz ausfalle, werde der Bundesrat «Massnahmen» ergreifen, sagte Leuthard weiter. Eine Möglichkeit wäre, die bei Junckers Besuch zugesagte Kohäsionsmilliarde auf Eis zu legen. Allerdings würde die Schweiz damit ausgerechnet die EU-kritischen Länder in Osteuropa verärgern. Kommt hinzu, dass der Marktzugang für die Börse laut dem EU-Papier nicht verweigert, sondern befristet gewährt werden soll.
Man kann das so sehen. Eigentlich aber handelt es sich um einen klaren Fall von Realpolitik. In der Schweiz hängen (zu) viele Akteure in Politik und Medien der Illusion nach, die Schweiz könne der EU den Tarif durchgeben. Die frühere Luzerner Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann bezeichnete diese Haltung gegenüber watson als «gigantischen Grössenwahn».
Allein mit der Drohung, die Schweizer Börsenregulierung nur befristet anzuerkennen, hat die EU-Kommission die Machtverhältnisse offengelegt. Es ist die Schweiz, die einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt wünscht, nicht umgekehrt. Als Nicht-Mitglied ist sie in einer Position der Schwäche. Die Briten sind gerade daran, diese Erfahrung ebenfalls zu machen.