Was ist schlimmer: den Fiskus hintergehen, indem man Einkommen und Vermögen nicht deklariert und so weniger Steuern zahlt, als man eigentlich müsste? Oder Sozialleistungen beziehen, auf die man kein Anrecht hat? Das Parlament befeuerte die Debatte über diese Streitfrage in der Wintersession mit zwei kontroversen Entscheiden.
Am Donnerstag beschloss der Ständerat, dass IV-Rentner bei Verdacht auf Missbrauch nicht nur observiert, sondern auch mit GPS-Peilsendern überwacht werden dürfen. Zwar schwächte der Rat die Massnahme insofern ab, als dafür eine richterliche Genehmigung notwendig ist. Kritiker aus dem linken Lager zeigten sich trotzdem empört: Mit dem neuen Gesetz könnten mutmassliche IV-Betrüger schärfer überwacht werden als Kriminelle oder Terrorverdächtige.
Sie erinnerten auch daran, dass die kleine Kammer nur zwei Tage zuvor jegliche Verschärfung für Steuerdelinquenten abgelehnt hatte. Sie beauftragte den Bundesrat, auf die von der früheren Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) aufgegleiste Revision des Steuerstrafrechts zu verzichten. Das Bankgeheimnis für inländische Kunden bleibt erhalten.
Die bürgerliche Mehrheit wollte damit in erster Linie den Rückzug der Bankgeheimnis-Initiative des Zürcher SVP-Nationalrats Thomas Matter ermöglichen. Dies dürfte nun geschehen, auch wenn das Initiativkomitee erst im Januar entscheiden will. Vordergründig aber signalisierte der Ständerat wie zuvor der Nationalrat, dass Steuerhinterzieher weiterhin geschont werden.
Nicht nur im Parlament stiess diese Ungleichbehandlung von Sozial- und Steuerbetrügern sauer auf. In den sozialen Medien und Kommentarspalten kamen Wut und Unverständnis vorab von linker Seite zum Ausdruck. Auch watson-User zeigten sich empört.
Die wütenden Reaktionen sind verständlich. Die Beschlüsse des Parlaments erwecken den Eindruck, dass es in der Schweiz schlimmer ist, den Sozialstaat zu «bescheissen», als genau diesem Staat die ihm zustehenden Einnahmen vorzuenthalten. Das Parlament plagt die Schwachen und schont die Reichen, könnte man es polemisch formulieren.
Der Unmut ist nicht unberechtigt. Normalverdiener müssen ihr Einkommen via Lohnausweis deklarieren, sie haben weit weniger Möglichkeiten zur «Steueroptimierung» als Gutsituierte. Die von den Bürgerlichen gerne beschworene Steuerehrlichkeit in der Schweiz ist ein Mythos. Auch hierzulande wird der Fiskus kräftig übers Ohr gehauen. Genaue Zahlen gibt es aus naheliegenden Gründen nicht, doch die Hinterziehungsquote wird laut NZZ auf 5 bis 20 Prozent geschätzt.
Die Matter-Initiative dürfte denn auch nicht zuletzt aus Angst vor der Linken zurückgezogen werden. Diese würde eine Abstimmung über die «Steuerhinterziehungs-Initiative» begrüssen. Sie hätte gute Erfolgschancen. Der Kampf gegen die Unternehmenssteuerreform III hat gezeigt, dass das Stimmvolk auf das Thema Steuergerechtigkeit sensibel reagiert.
Die Missbrauchsquote im Sozialbereich liegt dagegen bei etwa 2 bis 10 Prozent, hat der «Beobachter» errechnet. Die beiden Bereiche lassen sich kaum direkt vergleichen. Dennoch bleibt der Eindruck, dass bei den Steuern stärker getrickst wird als im Sozialbereich. Auch der private Versicherungsbetrug ist laut «Beobachter» grösser als der Missbrauch im sozialstaatlichen Sektor.
Ist die Empörung also berechtigt? Wenn man die Brille des Klassenkampfs ablegt, ist die Sache nicht so einfach. Unsere Gesellschaft ist vom «protestantischen» Ethos geprägt, wonach jeder Mensch selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen muss. Viele Leute schämen sich, wenn sie beim Staat um Hilfe bitten müssen. Weshalb die Sensibilität auch in diesem Bereich gross ist.
Dies gilt insbesondere für die Sozialhilfe. «In der Wahrnehmung der Bevölkerung werden hier Leistungen ausgerichtet, denen keine Gegenleistung gegenübersteht», sagte Walter Schmid, der frühere Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), dem «Beobachter». «Entsprechend sensibel und wenig tolerant reagieren viele auf Missbräuche in der Sozialhilfe.»
Viele Linke haben das nicht verstanden. Ein Beispiel ist die frühere Stadtzürcher Sozialdirektorin Monika Stocker (Grüne). Sie wollte nicht wahrhaben, dass die von zwei Whistleblowerinnen an die «Weltwoche» geleakten Fälle von krassem Sozialhilfe-Missbrauch (Stichwort BMW) ein ernstes Problem sind. Nur widerwillig stimmte sie der Einsetzung von Sozialdetektiven zu.
Unbewusst hat Stocker damit eine ähnliche Haltung eingenommen wie viele Verharmloser der Steuerhinterziehung. Ist doch alles halb so schlimm, seht es nicht so eng! Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach: Weder Sozial- noch Steuerbetrug dürfen toleriert werden. In der Realität dürfte die Durchsetzung dieser Erkenntnis am Widerstand der Bürgerlichen scheitern.