Das Referendum gegen die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) ist gescheitert. Okay, diese Behauptung ist in ihrer Absolutheit Fake News. Noch geben die Organisatoren um den umtriebigen Tessiner Politologen Nenad Stojanović nicht auf. Aber ihre Lage ist ernst, wenn nicht hoffnungslos. Rund einen Monat vor Ablauf der Sammelfrist sind erst 12'000 der notwendigen 50'000 Unterschriften beisammen, teilten sie an einer Medienkonferenz mit.
Nun versucht es das personell und finanziell schmalbrüstige Grüppchen mit einem Effort im besonders migrationskritischen Tessin. An alle 70'000 Haushalte im Südkanton sollen Unterschriftenbögen verschickt werden. Mehrere Tessiner Kantonalparteien unterstützen das Referendum bereits, darunter die CVP. Dennoch müsste ein echtes Politik-Wunder geschehen, damit die restlichen 40'000 Unterschriften in rund vier Wochen zusammenkommen.
Der absehbare Fehlschlag hat seine Logik, obwohl die Referendums-Truppe eine gemessen an ihrer mickrigen Grösse absurde Medienpräsenz erhalten hat, inklusive «Arena»-Auftritt von Nenad Stojanović. Ein Blick über die journalistische Filterblase hinaus hätte genügt, um festzustellen, dass die breite Masse das MEI-Theater nicht mehr sehen kann. Nach drei Jahren des quälenden Herumwurstelns wollen die Leute das Thema abhaken und zur Tagesordnung übergehen.
Die Schmalspur-Umsetzung namens «Inländervorrang light» dürfte in Kraft treten. Man bedauert fast, dass es wohl nicht zu einer Abstimmung kommen wird. Ein durchaus mögliches Ja hätte die Taktik der SVP durchkreuzt, den «Verfassungsbruch» auszuschlachten. Sie hat trotz lautem Gebrüll vor dem Referendum gekniffen, weil sie ein solches Szenario fürchtet. So richtig scheint der vermeintliche Kampfbegriff aber nicht zu zünden, wie die Erfahrung von Stojanović und Co. zeigt.
Erledigt ist die Causa MEI damit nicht, denn noch ist die Initiative «Raus aus der Sackgasse!» (RASA) pendent. Sie fordert die ersatzlose Streichung des am 9. Februar 2014 angenommenen Verfassungsartikels 121a. Der Bundesrat hat zwei Varianten für einen Gegenvorschlag präsentiert, die in der Vernehmlassung in der Luft zerrissen wurden. Was nicht erstaunt, denn sie sind ein Geknorze. Entsprechend lustlos hat Simonetta Sommaruga sie im Dezember präsentiert.
Es gibt nur einen sinnvollen Weg: Die RASA-Initianten müssten ihren Elfenbeinturm verlassen und ihr Begehren zurückziehen. Die MEI-Umsetzung hat das Problem entschärft, weshalb sich auch ein Gegenvorschlag erübrigt. Die Diskrepanz zwischen Gesetz und Verfassungsartikel bleibt bestehen, aber das System Schweiz hält so etwas aus. Der Alpenschutzartikel wird seit mehr als 20 Jahren nicht wirklich umgesetzt – das fehlende Verfassungsgericht macht's möglich.
Damit sollte nach drei Jahren des mühsamen Ringens im In- und Ausland endlich etwas Ruhe einkehren. So stellten sich das viele vor, nachdem das Parlament die Minimal-Umsetzung im Dezember verabschiedet hat. Ein Konflikt mit der Personenfreizügigkeit konnte vermieden werden, was selbst die EU zähneknirschend anerkennt. Im diese Woche verabschiedeten Bericht zu den Beziehungen mit der Schweiz meinte sie nur, man werde die Umsetzung «genau beobachten».
So weit, so gut. Können wir uns somit zurücklehnen und entspannen?
Eine schöne Vorstellung, nur entspricht sie nicht der Realität. In Wirklichkeit hat die EU Blut geleckt. Sie hat eine eigentliche «Verhandlungssperre» gegen die Schweiz verhängt und blockiert unter anderem die Weiterentwicklung der bestehenden bilateralen Verträge. Für die Exporteure kann dies zu Problemen führen, wenn sie die Marktzulassung neuer Produkte nicht mehr nur in der Schweiz, sondern zusätzlich in der EU prüfen lassen müssen.
«Eines muss man den EU-Beamten lassen: Sie haben ein feines Gespür dafür, wo die Schweiz angreifbar ist», schrieb die «NZZ am Sonntag». Den Hintergrund bildet das institutionelle Rahmenabkommen, mit dem die EU den «Wildwuchs» der bilateralen Verträge ordnen will. Die Schweiz spielt bei diesem Dossier auf Zeit, sie fürchtet, dass der Streit um die «fremden Richter» das Abkommen zum Absturz bringen wird. Christoph Blocher wetzt bereits die Messer.
In Brüssel verliert man deswegen zunehmend die Geduld. Man wolle das Rahmenabkommen «so schnell wie möglich» zu Ende verhandeln, heisst es im neuen Schweiz-Bericht. Deshalb werden die Daumenschrauben angezogen. Der scheidende Schweizer Chefunterhändler Jacques de Watteville beklagte sich darüber Anfang Februar vor dem aussenpolitischen Ausschuss des EU-Parlaments: «Die Schweiz erwartet von der EU, dass sie die Blockade der Dossiers aufhebt.»
Aussenminister Didier Burkhalter legte diese Woche im Ständerat nach. Der Bundesrat erwarte von der EU nicht nur Signale, sondern «konkrete Fortschritte», sagte er auf Anfrage von FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter. «Die klare politische Botschaft der EU-Kommission wäre sehr wichtig, um die Normalität zu bestätigen», ergänzte Burkhalter gegenüber SRF.
In Brüssel gibt man sich ungerührt. Chefunterhändler Christian Leffler verwies auf die Forderung der Mitgliedsländer, den institutionellen Rahmen zu klären. Für sie ist dieses Abkommen gerade die Voraussetzung dafür, die Bilateralen weiterzuentwickeln. «Statische Verträge sind nicht mehr zeitgemäss und in der Anpassung mühsam, sie widersprechen der dynamischen Entwicklung des EU-Rechts, das übernommen werden soll», sagte der Europarechtler Thomas Cottier zu watson.
Es rächt sich auch, dass die bilateralen Verträge bei der MEI-Umsetzung von Seiten der Schweiz quasi für sakrosankt erklärt wurden. «So liess sich keine glaubwürdige Drohkulisse aufbauen», sagte eine namentlich nicht genannte Quelle der «NZZ am Sonntag». Es ist nicht ratsam, in heiklen Verhandlungen eine rote Linie auf der eigenen Seite zu ziehen. So lädt man den Gegner regelrecht zum Angriff ein. Der bilaterale «Königsweg» wird zur Einbahnstrasse.
Die Schweiz hat wenige Mittel, um den EU-Druck zu kontern. Eines ist die Neuauflage der so genannten Kohäsionsmilliarde zur Unterstützung strukturschwacher Regionen insbesondere in Osteuropa. Die EU erwartet einen entsprechenden finanziellen Beitrag. Die Schweiz wolle diesen jedoch nur bezahlen, wenn Brüssel wieder kooperiere, sagte Didier Burkhalter zu SRF. Berichte, wonach er die Milliarde einfach verschenken wollte, dementierte der Aussenminister.
Ob die EU sich von derartigen Drohgebärden beeindrucken lässt, ist zweifelhaft. Sie weiss, dass sie am längeren Hebel sitzt. Denn ewig kann die Schweiz vor dem ungeliebten Rahmenabkommen nicht davon rennen, sie muss irgendwann Farbe bekennen. Einfach zuwarten, bis sie dieses Vertragswerk tatsächlich braucht, ist auch keine kluge Verhandlungstaktik.
Vorerst bleibt nur die Feststellung, dass die Hoffnung auf Ruhe nach dem MEI-Sturm vergebens war. Oder um einen populären Schlager zu zitieren: «S'isch ja nur es chlises Träumli gsi.»