Schweiz
Gesellschaft & Politik

Nach Italien ausgeschafft – das könnte der Foraus-Vorschlag verhindern

Die eritreische Familie Teklia aus Bern wurde vergangene Woche nach Italien abgeschoben. Die Menschenrechtsorganisation «Augenauf» fordert für die Familie einen Selbsteintritt ins Asylverfahren.
Die eritreische Familie Teklia aus Bern wurde vergangene Woche nach Italien abgeschoben. Die Menschenrechtsorganisation «Augenauf» fordert für die Familie einen Selbsteintritt ins Asylverfahren.bild: zvg

Wenn Flüchtlinge ihr Zielland wählen dürften, wäre dieser Fall aus Bern nicht passiert

Ginge es nach der aussenpolitischen Denkfabrik «Foraus», sollten alle Flüchtlinge selber auswählen können, in welchem Land sie ihr Asylgesuch stellen. Diese radikale Idee könnte problematische Abschiebungen, wie jene einer eritreischen Familie, die vor einer Woche nach Italien ausgeschafft wurde, verhindern. Doch der Vorschlag stösst auf Kritik.
06.12.2016, 14:3906.12.2016, 16:30
Daria Wild
Folge mir
Mehr «Schweiz»

Die Idee ist radikal: Die aussenpolitische Denkfabrik Foraus fordert in einem am Montag vorgestellten Reformprogramm für das Dublin-Abkommen, dass Flüchtlinge ihr Zielland selbst wählen dürfen sollen, dass also Registrierungsland und Asyl-Land getrennt werden können.

Denn: Dass Migranten ihre Asylgesuche im europäischen Eintrittsland stellen müssen, schaffe falsche Anreize, schreiben die Autoren; Flüchtlinge würden so auf irregulären Wegen durch Europa reisen, um ihr Zielland zu erreichen, zudem hätten Erststaaten kaum Interesse daran, alle Flüchtlinge zu registrieren.

Im Gegensatz dazu würde eine Wahlfreiheit, und die Trennung von Registrierung und Asylverfahren Anreize schaffen – für Flüchtlinge (nicht unterzutauchen) sowie für die Dublin-Grenzstaaten (die Flüchtlinge auch tatsächlich zu registrieren). Länder, die weniger Menschen aufnehmen, als im Verteilschlüssel vorgesehen, müssten gemäss dem Foraus-Vorschlag einfach mehr bezahlen – und damit jene Länder unterstützen, die über ihrem Soll liegen. Nicht zuletzt würden teure und heikle Abschiebungen wegfallen.

Nach Italien ausgeschafft

Ein aktuelles Beispiel aus der Schweiz verdeutlicht die Schwachpunkte, die das Foraus-Papier adressiert. Vor einer Woche hat das Migrationsamt Bern eine eritreische Familie ausgeschafft, die sich seit dem 16. Juni 2015 mit N-Status (für Flüchtlinge im laufenden Asylverfahren) im Kanton Bern aufhielt.

Die alleinerziehende Mutter und Witwe, die mit ihren drei minderjährigen Kindern ausgeschafft wurde, hat laut der Menschenrechtsorganisation «Augenauf», die den Fall publik machte, drei weitere aber bereits volljährige Kinder, die sich schon seit sechs, drei und zwei Jahren in der Schweiz aufhalten. Diese drei verfügen über eine gütlige Aufenthaltsbewilligung.

Warsay, eritreische Familie
Im Oktober 2015 zog die Familie vom Durchgangszentrum in Zollikofen in eine Wohnung in der Stadt Bern.bild: zvg

Weil aber die Flucht die Familie über Italien geführt hatte, wo ihnen Fingerabdrücke genommen wurden, machte die Schweiz die Zuständigkeit Italiens gelten. Gemäss «Augenauf» holten Zivilpolizisten die Mutter und ihre drei minderjährigen Kinder vergangenen Dienstag aus dem Bett, brachten sie auf den Flughafen Genf, von wo aus sie nach Mailand-Malpesa abgeschoben wurden. Seit einer Woche harrt die Familie eigenen Angaben zufolge in einem Mailänder Vorort aus, die Kinder, 13, 15 und 17 Jahre alt sprechen perfektes Berndeutsch, aber kein Wort italienisch.

Selbsteintritt ins Asylverfahren

Die Menschenrechtsorganisation «Augenauf» kritisiert die Ausschaffung scharf. Die Schweiz sei ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, von den italienischen Behörden eine Zusicherung für eine altersgerechte Unterbringung der Kinder einzuholen, heisst es in einem Schreiben an die Medien. Damit habe sie Artikel drei der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Ausserdem werde damit der Grundsatz der Familienzusammenführung missachtet.

Humanitäre Katastrophe in Como: Flüchtlinge stranden an der Schweizer Grenze

1 / 16
Hunderte Flüchtlinge stranden am Bahnhof von Como (I)
Touristen passieren am Boden schlafende Flüchtlinge, welche sich am Bahnhof von Como niedergelassen haben und auf eine Weiterreise in die Schweiz warten.
quelle: keystone/ti-press / francesca agosta
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Von Italien aus bemüht sich die Familie nun um einen Selbsteintritt ins Asylverfahren. Ein Selbsteintritt wird im Artikel 17 der Dublin-III-Verordnung vorgesehen. Damit sollen systemische Mängel im Sinne der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgemerzt werden. Fälle also, bei denen auf eine Überstellung an den Staat, der zuständig wäre, verzichtet werden muss. Chancen wird die Familie damit kaum haben, rechtlich ist der Entscheid der Schweiz wasserdicht.

Solche heiklen Abschiebungen könnte die Reformidee von Foraus verhindern. Doch der Vorschlag ist umstritten. Während die Linke bis hin zur Mitte applaudiert, kritisieren Bürgerliche rechts der Mitte die Idee scharf. Es sei ein falscher Ansatz, die Verteilung von Migranten über Finanzen zu regeln, sagte CVP-Präsident Gerhard Pfister gegenüber dem «Tages-Anzeiger», FDP-Nationalrätin Doris Fiala warnte in der Zeitung davor, dass sich Staaten «freikaufen» könnten.

Dass beliebte Aufnahmestaaten wie Deutschland oder Schweden benachteiligt würden, glauben die Foraus-Denker hingegen nicht. Wer weniger Flüchtlinge aufnehmen würde als vorgesehen, müsste einfach mehr bezahlen, sagen die Verfasser des Vorschlags.

Damit ist die Diskussion lanciert: Der Nationalrat wird eine Interpellation einreichen, um den Bundesrat mit dem Foraus-Reformvorschlag zu konfrontieren. Die eritreische Familie hofft weiter auf den Passus im Dublin-III-Abkommen, der ihnen den Rückweg ins Schweizer Asylverfahren ebnen könnte.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
83 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Judge Dredd
06.12.2016 17:18registriert April 2016
Ein Problem das ich sehe ist, dass wenn freie Wahl besteht, sich die verschiedenen Ethnien auf bestimmte Länder konzentrieren würden und das noch mehr als jetzt schon. Wenn z.B. alle Eritreer in das selbe Land flüchten, ist der Anreiz sich anzupassen viel geringer, da die Gefahr der Entstehung von Parallelgesellschaften besteht. Das dürfte der Integration nicht sehr dienlich sein.

Überspitzt gesagt, jeder der mal ein Sprachaufenthalt gemacht hat weiss wie dienlich es ist, in einer Klasse der einzige zu sein der Deutsch spricht.
1422
Melden
Zum Kommentar
avatar
Bijouxly
06.12.2016 15:52registriert Dezember 2014
Die EU ist doch kein Süssigkeiten-Laden... Wer Schutz sucht, erhält ihn. Wer durch Europa tingelt und lieber in Calais erfriert um nach Grossbritannien zu kommen, als in Frankreich Asyl zu beantragen, ist in meinen Augen kein Flüchtling, sondern ein Wirtschaftsmigrant. Echte Flüchtlinge sind dankbar, Frieden und ein Dach über dem Kopf zu haben - egal wo in Europa! http:// Ei
16328
Melden
Zum Kommentar
avatar
Wilhelm Dingo
06.12.2016 16:20registriert Dezember 2014
Die Idee ist ja schön für die Betroffenen aber nicht unbedingt die Wunschvorstellung der beliebten Zielländer welche nur begrenzt Flüchtlinge aufnehmen wollen auch wenn dafür gezahlt wird. Kommt endlich in der Realität an und akzeptiert dass die Mehrheit in Europa keine Zuwanderung im grossen Stil will! Wenn das nicht endlich berücksichtigt wird werden die Populisten weiter zulegen!
13812
Melden
Zum Kommentar
83
St. Galler Amtsleiter reiste für mehrtägige Wolfsjagd nach Russland – und erntet Kritik

Der Leiter des Amtes für Natur, Jagd und Fischerei des Kantons St. Gallen hat zusammen mit einem Wildhüter während der Arbeitszeit in Russland an einer mehrtägigen Wolfsjagd teilgenommen. Das berichtet das SRF-Regionaljournal Ostschweiz. Naturschutzverbände kritisieren die Reise als «Erlebnisreise» ohne tatsächlichen Erkenntnisgewinn.

Zur Story