Die Idee ist radikal: Die aussenpolitische Denkfabrik Foraus fordert in einem am Montag vorgestellten Reformprogramm für das Dublin-Abkommen, dass Flüchtlinge ihr Zielland selbst wählen dürfen sollen, dass also Registrierungsland und Asyl-Land getrennt werden können.
Denn: Dass Migranten ihre Asylgesuche im europäischen Eintrittsland stellen müssen, schaffe falsche Anreize, schreiben die Autoren; Flüchtlinge würden so auf irregulären Wegen durch Europa reisen, um ihr Zielland zu erreichen, zudem hätten Erststaaten kaum Interesse daran, alle Flüchtlinge zu registrieren.
Im Gegensatz dazu würde eine Wahlfreiheit, und die Trennung von Registrierung und Asylverfahren Anreize schaffen – für Flüchtlinge (nicht unterzutauchen) sowie für die Dublin-Grenzstaaten (die Flüchtlinge auch tatsächlich zu registrieren). Länder, die weniger Menschen aufnehmen, als im Verteilschlüssel vorgesehen, müssten gemäss dem Foraus-Vorschlag einfach mehr bezahlen – und damit jene Länder unterstützen, die über ihrem Soll liegen. Nicht zuletzt würden teure und heikle Abschiebungen wegfallen.
Ein aktuelles Beispiel aus der Schweiz verdeutlicht die Schwachpunkte, die das Foraus-Papier adressiert. Vor einer Woche hat das Migrationsamt Bern eine eritreische Familie ausgeschafft, die sich seit dem 16. Juni 2015 mit N-Status (für Flüchtlinge im laufenden Asylverfahren) im Kanton Bern aufhielt.
Die alleinerziehende Mutter und Witwe, die mit ihren drei minderjährigen Kindern ausgeschafft wurde, hat laut der Menschenrechtsorganisation «Augenauf», die den Fall publik machte, drei weitere aber bereits volljährige Kinder, die sich schon seit sechs, drei und zwei Jahren in der Schweiz aufhalten. Diese drei verfügen über eine gütlige Aufenthaltsbewilligung.
Weil aber die Flucht die Familie über Italien geführt hatte, wo ihnen Fingerabdrücke genommen wurden, machte die Schweiz die Zuständigkeit Italiens gelten. Gemäss «Augenauf» holten Zivilpolizisten die Mutter und ihre drei minderjährigen Kinder vergangenen Dienstag aus dem Bett, brachten sie auf den Flughafen Genf, von wo aus sie nach Mailand-Malpesa abgeschoben wurden. Seit einer Woche harrt die Familie eigenen Angaben zufolge in einem Mailänder Vorort aus, die Kinder, 13, 15 und 17 Jahre alt sprechen perfektes Berndeutsch, aber kein Wort italienisch.
Die Menschenrechtsorganisation «Augenauf» kritisiert die Ausschaffung scharf. Die Schweiz sei ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, von den italienischen Behörden eine Zusicherung für eine altersgerechte Unterbringung der Kinder einzuholen, heisst es in einem Schreiben an die Medien. Damit habe sie Artikel drei der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Ausserdem werde damit der Grundsatz der Familienzusammenführung missachtet.
Von Italien aus bemüht sich die Familie nun um einen Selbsteintritt ins Asylverfahren. Ein Selbsteintritt wird im Artikel 17 der Dublin-III-Verordnung vorgesehen. Damit sollen systemische Mängel im Sinne der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgemerzt werden. Fälle also, bei denen auf eine Überstellung an den Staat, der zuständig wäre, verzichtet werden muss. Chancen wird die Familie damit kaum haben, rechtlich ist der Entscheid der Schweiz wasserdicht.
Solche heiklen Abschiebungen könnte die Reformidee von Foraus verhindern. Doch der Vorschlag ist umstritten. Während die Linke bis hin zur Mitte applaudiert, kritisieren Bürgerliche rechts der Mitte die Idee scharf. Es sei ein falscher Ansatz, die Verteilung von Migranten über Finanzen zu regeln, sagte CVP-Präsident Gerhard Pfister gegenüber dem «Tages-Anzeiger», FDP-Nationalrätin Doris Fiala warnte in der Zeitung davor, dass sich Staaten «freikaufen» könnten.
Dass beliebte Aufnahmestaaten wie Deutschland oder Schweden benachteiligt würden, glauben die Foraus-Denker hingegen nicht. Wer weniger Flüchtlinge aufnehmen würde als vorgesehen, müsste einfach mehr bezahlen, sagen die Verfasser des Vorschlags.
Damit ist die Diskussion lanciert: Der Nationalrat wird eine Interpellation einreichen, um den Bundesrat mit dem Foraus-Reformvorschlag zu konfrontieren. Die eritreische Familie hofft weiter auf den Passus im Dublin-III-Abkommen, der ihnen den Rückweg ins Schweizer Asylverfahren ebnen könnte.