Schweiz
Bern

800 Bäume und 67 Häuser sollen weg: Eine neue Autobahn spaltet Biel

800 Bäume und 67 Häuser sollen weg: Eine neue Autobahn spaltet Biel

29.06.2017, 15:1329.06.2017, 16:49
William Stern
Folge mir
Mehr «Schweiz»
Das Bild zeigt die Ausfahrt Biel Stadtzentrum, City, an der Oeffentlichen Planauflage des Ausfuehrungsprojekts "A5-Westumfahrung Biel", am Montag, 27. Maerz 2017, in Biel. Der Bundesrat hat  ...
Öffentliche Planauflage des Ausführungsprojekts A5-Westumfahrung Biel im März 2017.Bild: KEYSTONE

In Biel ereignet sich gerade Grosses. In der etwas heruntergewirtschafteten Uhren- und Industriestadt, oftmals als Sozialhilfehochburg der Schweiz verschrien, wird eine Lücke geschlossen: Das letzte Teilstück der Autobahn A5, die Verbindung zwischen Biel und Neuenburg. Ein historischer Augenblick, eigentlich.

Mit den neuen Anschlüssen soll die Stadt entlastet werden. Tagtäglich wälzen sich Hunderte von Autos im Schritttempo durch die Quartiere der verschlafenen Seestadt, Lärm und Schadstoffe inklusive. Neu soll ein Gutteil des Verkehrs in den Untergrund verlagert werden. Der Westast ist der zweite Teil des Bauprojekts, der Ostast befindet sich gegenwärtig im Bau, Ende Jahr soll er abgeschlossen sein.

2,2 Milliarden Franken sind für das Projekt veranschlagt, ein Grossteil davon zahlt der Bund, 87 Prozent, dem notorisch verschuldeten Bern wird grosszügig unter die Arme gegriffen, die Stadt Biel selber muss gar nicht in die Tasche greifen. 

Ein Logo zur Autobahn A5 Biel fotografiert an der Oeffentlichen Planauflage des Ausfuehrungsprojekts "A5-Westumfahrung Biel", am Montag, 27. Maerz 2017, in Biel. Der Bundesrat hat dem Bau de ...
Logo der Autobahn A5.Bild: KEYSTONE

Eine Win-win-Situation für die Bieler, könnte man meinen: der Schweizer Steuerzahler blecht, die Bieler profitieren, weniger Autos in der Stadt, bessere Verkehrsanbindung in die Region. Ein Wiederaufleben vergangener Grösse, in den 50er und 60er-Jahren, als Biel das Label Zukunftsstadt verliehen wurde.

Aber in Biel tut sich ein Graben auf – noch bevor die Bagger aufgefahren sind.

Neben den 800 Bäumen sind es vor allem die geplanten Enteignungen, die für rote Köpfe sorgen. 67 Häuser müssen den Bagger weichen, 8 Geschäfts- und 39 Wohnhäuser – darunter die Technische Fachschule, das Maschinenmuseum sowie ein Teil der Schule für Gestaltung.

Wie in Kaiseraugst

«Venceremos», wir werden siegen. Mit dem Schlachtruf der Republikaner aus dem Spanischen Bürgerkrieg endet das Mail, das Sabine Reber am Dienstagmorgen verschickt hat. Darin fordert sie Bekannte und Freunde auf, die Petition des Komitees Biel Notre Amour zu unterstützen.

Die Stadt Biel am Donnerstag, 9. August 2012. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella)
Biel, jährlich um die 500 Einwohner mehr, jährlich zwischen 2 bis 3 Prozent mehr Verkehr.Bild: KEYSTONE

Die Bieler Grüne, ehemalige Nationalratskandidatin und «Gärtnerin der Nation», ist federführend bei der Kampagne «Biel notre Amour». 

Nationalratskandidatin Sabine Reber, links, inmitten der Delegierten der Gruenen Kanton Bern waehrend der Nomination der Nationalratskandidaten am Dienstag, 20. Januar 2015 in Bern. (KEYSTONE/Lukas Le ...
Sabine Reber, «Gärtnerin der Nation» und Gegner des Projekts Westast.Bild: KEYSTONE

Mit der Unterstützung von Politikern, Künstlern, Schülern und Schülerinnen will das Komitee den Bau des Autobahn-Teilstücks Westast verhindern, 1550 Personen zählt das Komitee. Letzte Woche wurden bei einer Guerilla-Aktion 800 Bäume angemalt. Exakt die Zahl, die beim Bau des Westasts abgeholzt werden müsste. Diese Woche schaltet das Komitee ein von Bieler Gymnasiastinnen in Eigenregie gedrehtes Video auf, das zeigt, wie sich das Bieler Seebecken verändern würde, wenn die Bagger dereinst auffahren, um dem Projekt Westast Leben einzuhauchen. 

Warnung vor der Betonwüste – so macht das Komitee gegen den Westast mobil

Video: undefined

Für Reber, Gärtnerin der Nation, würden die Bagger Biel das Herz herausreissen. 

10 bis 15 Jahre Bauzeit – die Stadt verschandelt, der Zugang zum See erschwert, Bäume weg, Häuser weg.

Aber kämpfen die Gegner des Westasts nicht längst auf verlorenem Posten? 

Reber verneint, dass die Uhr längst abgelaufen ist: «Damals in Kaiseraugst sind schon die Bagger aufgefahren, wir müssen jetzt ad Seck, dann schaffen wir das.» Was schaffen? «Das Projekt verhindern, nichts weniger.»

Im Gespräch mit Reber wird klar: Bei den Gegner herrscht Sorge. Sorge, dass sich die Stadt verändern könnte, Sorge, dass das Biel, das die Menschen kennen und schätzen, dereinst anders aussehen wird. Angst vor der Gentrifizierung. 

Angst, dass die eigenen Kinder in einigen Jahren nicht mehr unter den Nussbäumen und Rotbuchen am See kiffen und ihrer farbigen, multikulturellen und ein bisschen abgefuckten Stadt beim gemächlichen Dämmern zuschauen können. 

Die Kröte schlucken

Die Angst vor der Veränderung ist real, das geben auch die Befürworter zu. 

Telefon mit Peter Moser. Wenn man mit Bielern über den Westast redet, erzählen einem die meisten gleich zu Beginn, ungefragt, welche Verkehrsmittel sie benutzen. Moser, FDP Grossrat, ist «ÖV-Fan». Kein Wunder, schliesslich betreibt er eine Buslinie.

Dass er ein Fan des Projekts Westasts ist, würde er wohl bestreiten. Aber: «Die Umfahrung ist dringend nötig, damit die Lebensqualität wieder zunimmt.» Moser hat einen Lieblingssatz: Mobilität braucht Infrastruktur. Und diese Infrastruktur könne nur mit dem Westast, so wie er jetzt geplant ist, garantiert werden. Wie die meisten Bieler Befürworter des Westasts, ist Moser weit davon entfernt, dem Projekt unkritisch gegenüberzustehen, aber, so Moser, «diese Kröte müssen wir schlucken – auch im Hinblick auf die nächste Generation.»

Ein vernünftiges Verkehrskonzept

Telefon mit Benedikt Loderer, renommierter Architekturkritiker, Stadtwanderer, lautester und langjährigster Kritiker der Hüslischweiz. Loderer holt aus, wandert zurück in die 60er-Jahre, als der Bundesrat die Schweiz endgültig ins motorisierte Zeitalter steuern wollte und das Nationalstrassengesetz verabschiedete. «Damit wurde auch festgeschrieben, dass das nationale Interesse höher zu gewichten ist als das lokale.» Und genau daran haben die Bieler nun zu beissen.

Auto
AbonnierenAbonnieren

«Die Taktik der Autobahngegner: Möglichst lange und möglichst aufrecht auf die Hinterbeine – bis dem Bund vielleicht irgendwann einmal die Luft ausgeht.» Ist das realistisch? Eigentlich nicht, sagt Loderer, jetzt gehe es nur noch darum, das Autobahnnetz stadtverträglich zu gestalten – «contradicitio in adjecto», wie Loderer trocken anmerkt, denn «wer Strassen baut, wird Verkehr ernten», so einfach sei das.

Nach zwei Tagen Mailverkehr mit dem Sekretariat des Bieler Stadtpräsidenten, hat man ihn endlich am Telefon. Erich Fehr, SPler, geboren in Biel, wohnhaft in Bözingen, ein Quartier, das vom Westast verschont bleibt. Fehr, dessen Partei in der Frage des Westasts gespalten ist, zeigt Verständnis für die Gegner: «Wer persönlich von einer Hausenteignung betroffen ist, der hat natürlich jedes Interesse, gegen das Projekt Westast zu kämpfen.» Nur fokussierten die Gegner praktisch nur auf die stadträumlichen Auswirkungen, während der Gemeinderat das übergeordnete Wohl im Blick haben müsse: Die verkehrlichen Auswirkungen auf die Gesamtstadt und die Agglomeration, welche auch eine Aufwertung der Wohnquartiere ermöglichen sollen. «Biel ist eine Industriestadt, wir brauchen daher leistungsfähige Verkehrsinfrastrukturen.»

Apropos Auto und Politik

1 / 14
Autopartei
Die Auto-Partei wurde im Jahr 1985 als Gegenpol zur Grünen Partei gegründet. Ihr Fokus lag auf der Förderung des motorisierten Individualverkehrs. Zudem setzte sie sich für eine restriktive Ausländer- und Migrationspolitik ein.
quelle: keystone / str
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Wenn Reber, die Grüne, an ein vernünftiges Verkehrskonzept denkt, dann denkt sie an Velos, Fussgänger und den ÖV. «Dass in Zeiten von Klimaerwärmung, Hitzesommern, Dürreperioden und Klimakriegen ein Projekt dieser Grössenordnung aus der Sicht des Autosteuerrads geplant wird, ist doch schlicht absurd, ein völlig falsches Signal.»

Moser, Busfan und FDP-Grossrat, hält nichts von den Argumenten der «Fundis»: «Einerseits wollen sie Pakete im Internet bestellen, anderseits aber keine Lastwagen in ihrem Quartier. Das ist doch schizophren.» Und sowieso: «Die Räder werden auch in 100 Jahren rund und nicht eckig sein.» Die Frage ist vielleicht nur, welchen Untersatz die Räder befördern: Einen benzinbetriebenen PKW oder ein Elektrovelo.

Video: srf
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
83 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
smoking gun
29.06.2017 16:30registriert Oktober 2015
Sorry, aber dieser Artikel ist eine Katastrophe. "heruntergewirtschaftete Uhren- und Industriestadt"', ziemlich frech, aber der Autor weiss offensichtlich nicht, dass Biel und Umgebung der Wirtschaftsmotor des Kantons Bern ist. Wohl noch nie was vom Industriegebiet Bözingenfeld gehört? "Verschlafene Seestadt"? Wer so etwas schreibt, war noch nie in Biel oder geht einfach nur gerne in Zürich mit seinem Hund im Gesicht spazieren. William, schau dir die Stadt doch mal an! Übernächste Woche findet in der Altstadt zum 40. Mal die Kulturwoche Pod'Ring statt. Klein aber fein und typisch Biel/Bienne.
16022
Melden
Zum Kommentar
avatar
andre63
29.06.2017 18:06registriert März 2014
heruntergewirtschaftet? mann o mann... was sich alles journalist nennen darf...
886
Melden
Zum Kommentar
avatar
Maikel
29.06.2017 18:34registriert Oktober 2016
Salut William. Lebst du noch in der Züri-Filterblase? Hab schon lange nicht mehr ein so klischierter Kommentar gelesen. Ich sehe eher wenig kiffende Kinder am See, dafür u.a. GymnasiastInnen, die sich für eine lebenswerte Zukunft für Biel einsetzen. Die Bieler haben keine Angst vor Veränderung, sofern sie nicht rückwärts gerichtet ist (Verkehrsplanung aus den 60er). Lieber Gruss von einem Zürcher, der letzten Herbst nach Biel gezogen ist. Schau doch mal vorbei, es ist gar nicht so 'abgefuckt' hier.
869
Melden
Zum Kommentar
83
Grünen-Girod hat ein neues Mandat – bei einem «Big Four»-Consultant

Das Beratungsunternehmen Deloitte hat Bastien Girod zum Partner für Nachhaltigkeit ernannt. Der Nationalrat der Grünen soll Prüfungs- und Beratungsdienstleistungen von Deloitte ergänzen und Kunden in Sachen Nachhaltigkeitstransformation unterstützen, teilte das Unternehmen am Mittwoch in einer Medienmitteilung mit.

Zur Story