In Biel ereignet sich gerade Grosses. In der etwas heruntergewirtschafteten Uhren- und Industriestadt, oftmals als Sozialhilfehochburg der Schweiz verschrien, wird eine Lücke geschlossen: Das letzte Teilstück der Autobahn A5, die Verbindung zwischen Biel und Neuenburg. Ein historischer Augenblick, eigentlich.
Mit den neuen Anschlüssen soll die Stadt entlastet werden. Tagtäglich wälzen sich Hunderte von Autos im Schritttempo durch die Quartiere der verschlafenen Seestadt, Lärm und Schadstoffe inklusive. Neu soll ein Gutteil des Verkehrs in den Untergrund verlagert werden. Der Westast ist der zweite Teil des Bauprojekts, der Ostast befindet sich gegenwärtig im Bau, Ende Jahr soll er abgeschlossen sein.
2,2 Milliarden Franken sind für das Projekt veranschlagt, ein Grossteil davon zahlt der Bund, 87 Prozent, dem notorisch verschuldeten Bern wird grosszügig unter die Arme gegriffen, die Stadt Biel selber muss gar nicht in die Tasche greifen.
Eine Win-win-Situation für die Bieler, könnte man meinen: der Schweizer Steuerzahler blecht, die Bieler profitieren, weniger Autos in der Stadt, bessere Verkehrsanbindung in die Region. Ein Wiederaufleben vergangener Grösse, in den 50er und 60er-Jahren, als Biel das Label Zukunftsstadt verliehen wurde.
Aber in Biel tut sich ein Graben auf – noch bevor die Bagger aufgefahren sind.
Neben den 800 Bäumen sind es vor allem die geplanten Enteignungen, die für rote Köpfe sorgen. 67 Häuser müssen den Bagger weichen, 8 Geschäfts- und 39 Wohnhäuser – darunter die Technische Fachschule, das Maschinenmuseum sowie ein Teil der Schule für Gestaltung.
«Venceremos», wir werden siegen. Mit dem Schlachtruf der Republikaner aus dem Spanischen Bürgerkrieg endet das Mail, das Sabine Reber am Dienstagmorgen verschickt hat. Darin fordert sie Bekannte und Freunde auf, die Petition des Komitees Biel Notre Amour zu unterstützen.
Die Bieler Grüne, ehemalige Nationalratskandidatin und «Gärtnerin der Nation», ist federführend bei der Kampagne «Biel notre Amour».
Mit der Unterstützung von Politikern, Künstlern, Schülern und Schülerinnen will das Komitee den Bau des Autobahn-Teilstücks Westast verhindern, 1550 Personen zählt das Komitee. Letzte Woche wurden bei einer Guerilla-Aktion 800 Bäume angemalt. Exakt die Zahl, die beim Bau des Westasts abgeholzt werden müsste. Diese Woche schaltet das Komitee ein von Bieler Gymnasiastinnen in Eigenregie gedrehtes Video auf, das zeigt, wie sich das Bieler Seebecken verändern würde, wenn die Bagger dereinst auffahren, um dem Projekt Westast Leben einzuhauchen.
Für Reber, Gärtnerin der Nation, würden die Bagger Biel das Herz herausreissen.
10 bis 15 Jahre Bauzeit – die Stadt verschandelt, der Zugang zum See erschwert, Bäume weg, Häuser weg.
Aber kämpfen die Gegner des Westasts nicht längst auf verlorenem Posten?
Reber verneint, dass die Uhr längst abgelaufen ist: «Damals in Kaiseraugst sind schon die Bagger aufgefahren, wir müssen jetzt ad Seck, dann schaffen wir das.» Was schaffen? «Das Projekt verhindern, nichts weniger.»
Im Gespräch mit Reber wird klar: Bei den Gegner herrscht Sorge. Sorge, dass sich die Stadt verändern könnte, Sorge, dass das Biel, das die Menschen kennen und schätzen, dereinst anders aussehen wird. Angst vor der Gentrifizierung.
Angst, dass die eigenen Kinder in einigen Jahren nicht mehr unter den Nussbäumen und Rotbuchen am See kiffen und ihrer farbigen, multikulturellen und ein bisschen abgefuckten Stadt beim gemächlichen Dämmern zuschauen können.
Die Angst vor der Veränderung ist real, das geben auch die Befürworter zu.
Telefon mit Peter Moser. Wenn man mit Bielern über den Westast redet, erzählen einem die meisten gleich zu Beginn, ungefragt, welche Verkehrsmittel sie benutzen. Moser, FDP Grossrat, ist «ÖV-Fan». Kein Wunder, schliesslich betreibt er eine Buslinie.
Dass er ein Fan des Projekts Westasts ist, würde er wohl bestreiten. Aber: «Die Umfahrung ist dringend nötig, damit die Lebensqualität wieder zunimmt.» Moser hat einen Lieblingssatz: Mobilität braucht Infrastruktur. Und diese Infrastruktur könne nur mit dem Westast, so wie er jetzt geplant ist, garantiert werden. Wie die meisten Bieler Befürworter des Westasts, ist Moser weit davon entfernt, dem Projekt unkritisch gegenüberzustehen, aber, so Moser, «diese Kröte müssen wir schlucken – auch im Hinblick auf die nächste Generation.»
Telefon mit Benedikt Loderer, renommierter Architekturkritiker, Stadtwanderer, lautester und langjährigster Kritiker der Hüslischweiz. Loderer holt aus, wandert zurück in die 60er-Jahre, als der Bundesrat die Schweiz endgültig ins motorisierte Zeitalter steuern wollte und das Nationalstrassengesetz verabschiedete. «Damit wurde auch festgeschrieben, dass das nationale Interesse höher zu gewichten ist als das lokale.» Und genau daran haben die Bieler nun zu beissen.
«Die Taktik der Autobahngegner: Möglichst lange und möglichst aufrecht auf die Hinterbeine – bis dem Bund vielleicht irgendwann einmal die Luft ausgeht.» Ist das realistisch? Eigentlich nicht, sagt Loderer, jetzt gehe es nur noch darum, das Autobahnnetz stadtverträglich zu gestalten – «contradicitio in adjecto», wie Loderer trocken anmerkt, denn «wer Strassen baut, wird Verkehr ernten», so einfach sei das.
Nach zwei Tagen Mailverkehr mit dem Sekretariat des Bieler Stadtpräsidenten, hat man ihn endlich am Telefon. Erich Fehr, SPler, geboren in Biel, wohnhaft in Bözingen, ein Quartier, das vom Westast verschont bleibt. Fehr, dessen Partei in der Frage des Westasts gespalten ist, zeigt Verständnis für die Gegner: «Wer persönlich von einer Hausenteignung betroffen ist, der hat natürlich jedes Interesse, gegen das Projekt Westast zu kämpfen.» Nur fokussierten die Gegner praktisch nur auf die stadträumlichen Auswirkungen, während der Gemeinderat das übergeordnete Wohl im Blick haben müsse: Die verkehrlichen Auswirkungen auf die Gesamtstadt und die Agglomeration, welche auch eine Aufwertung der Wohnquartiere ermöglichen sollen. «Biel ist eine Industriestadt, wir brauchen daher leistungsfähige Verkehrsinfrastrukturen.»
Wenn Reber, die Grüne, an ein vernünftiges Verkehrskonzept denkt, dann denkt sie an Velos, Fussgänger und den ÖV. «Dass in Zeiten von Klimaerwärmung, Hitzesommern, Dürreperioden und Klimakriegen ein Projekt dieser Grössenordnung aus der Sicht des Autosteuerrads geplant wird, ist doch schlicht absurd, ein völlig falsches Signal.»
Moser, Busfan und FDP-Grossrat, hält nichts von den Argumenten der «Fundis»: «Einerseits wollen sie Pakete im Internet bestellen, anderseits aber keine Lastwagen in ihrem Quartier. Das ist doch schizophren.» Und sowieso: «Die Räder werden auch in 100 Jahren rund und nicht eckig sein.» Die Frage ist vielleicht nur, welchen Untersatz die Räder befördern: Einen benzinbetriebenen PKW oder ein Elektrovelo.