Eine Abstimmung zur politischen Zugehörigkeit, wutentbrannte Bürger auf der Strasse und Polizisten, die mit Gewalt reagieren – tausendfach strömten diese Bilder am Sonntag aus Katalonien in die Welt. Doch auch die «heile» Schweiz hat ähnliche Szenen schon erlebt, man muss nur genügend lange zurückblicken: Während des jahrzehntelangen Unabhängigkeitskampfes der jurassischen Separatisten flammte die Gewalt immer wieder auf. Ein Hauch Bürgerkrieg lag über der Nordwestschweiz. Als der Kanton Jura 1979 die volle Souveränität erlangte, verlor der Konflikt an Virulenz. Er schwelte aber weiter, solange sich einzelne Gemeinden von Bern lossagen und dem «neuen» Kanton angliedern wollten – so wie es Moutier im Juni dieses Jahres beschloss. Zuletzt sprachen sich Belprahon und Sorvilier gegen einen Kantonswechsel aus und setzten damit einen (vorübergehenden) Schlussstrich unter den Jurakonflikt.
Aber sind die beiden Fälle Katalonien und der Jura überhaupt miteinander vergleichbar? Auf den ersten Blick nicht. Der Hauptunterschied liegt auf der Hand: Im Gegensatz zum spanischen Präzedenzfall hat sich in der Schweiz kein Kanton (oder ein Teil davon) vom Staat loszulösen versucht. Auf dem Tisch lag «nur» die Schaffung eines neuen Bestandteils oder ein Wechsel innerhalb der bestehenden Entität. Auch hatte der Kanton Jura im Fall von Moutier nie die Absicht, ein Referendum gegen den Willen von Bern oder des Bundes durchzuführen – er kämpfte einzig dafür, die rechtlichen Rahmenvoraussetzungen für eine legale Abstimmung zu schaffen.
In Bezug aufs Völkerrecht macht dies einen gewichtigen Unterschied. Dieses interessiert sich kaum für die Subgliederung eines Staates, aber sehr wohl für das Verhältnis zwischen den Staaten. Zentral ist die territoriale Integrität (also die Unverletzlichkeit des eigenen Hoheitsgebietes), wie es auch in der Charta der Vereinten Nationen verbrieft ist. In einem (vermeintlichen) Widerspruch dazu steht das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses werde jedoch häufig missverständlich ausgelegt, sagt Tilmann Altwicker vom Rechtswissenschaftlichen Institut der Uni Zürich.
Es beziehe sich auf Autonomierechte innerhalb des bestehenden Hoheitsgebiets – also etwa die Möglichkeit, die eigene Sprache oder Kultur zu pflegen –, nicht aber auf das freie Recht, sich von der übergeordneten Einheit loszusagen. Eine Ausnahme davon sei einzig denkbar, wenn «systematische, andauernde und massive Menschenrechtsverletzungen vorliegen», so Altwicker. Dies sei etwa im Kosovo der Fall gewesen, wobei auch dieser Fall unter Juristen umstritten ist. Kurz: Die sonntägliche Abstimmung in Katalonien widerspricht nicht nur der spanischen Verfassung, sondern auch dem Völkerrecht.
Schaut man die Geschichte des Kantons Jura und den katalanischen Unabhängigkeitskampf auf einer tiefer geordneten Ebene an, sind jedoch durchaus Parallelen festzustellen: So veranstaltete die Gemeinde Moutier 1998 eine Konsultativabstimmung zur Kantonszugehörigkeit. Anders als Madrid torpedierte Bern den Urnengang zwar nicht, erklärte aber ebenso eindeutig wie die spanische Zentralregierung, dass das Verdikt keinerlei rechtliche Bindung habe (ironischerweise unterlagen die Separatisten an der Urne).
Die Abstimmung war ohnehin nur ein Zwischenschritt in einem partizipativen Prozess, der sich über Jahrzehnte hinwegzog. Oberstes Ziel: Den Jurakonflikt und seine Ausläufer einvernehmlich zu lösen und entsprechend alle relevanten Kräfte einzubeziehen. 1994 wurde dafür die Interjurassische Versammlung unter dem Patronat des Bundes geschaffen, im Rahmen der Tripartiten Konferenz trafen sich in der Folge regelmässig Delegierte der beiden Kantone mit Bundesvertretern. Will Spanien etwas von der Schweiz lernen, sind es also in erster Linie prozessuale Vorgänge. Zwar geniesst Katalonien bereits jetzt Autonomierechte innerhalb des spanischen Staates. Wie die jüngsten Entwicklungen zeigen, befriedigen diese einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung aber nur ungenügend. Seit Sonntag sind die Fronten verhärteter denn je.
Jean-Christophe Geiser, Verantwortlicher für das Juradossier beim Bundesamt für Justiz, plädiert denn auch dafür, dass sich die Europäische Union oder der Europarat aktiver einbringen – analog zur Rolle des Bundes zwischen Bern und dem Jura. «Sie sollten eine Mediationsfunktion wahrnehmen», so Geiser. Dies, obwohl weder die EU, noch der Europarat dazu verpflichtet seien. Der Fall Moutier zeige, dass der rechtlich kohärente Weg auf lange Sicht effizienter und breiter akzeptiert sei. Der katalanischen Regierung rät er derweil, «besser für eine legale Basis zu kämpfen statt eine verfassungswidrige Abstimmung zu organisieren».