Jennifer* und der kleine Bruder. Sie die Wilde, er der Sanfte. Der, den man nicht aufziehen durfte, wenn er rote Hunde malte und nicht auslachen durfte, wenn er mit seinem Laufrad die Hecken schrammte. «Mamas Liebling», meint Jennifer und schickt dann mit sanftem Lächeln nach: «Meiner aber auch».
Jenni scrollt an ihrem Handy durch die Facebook-Fotos ihres kleinen Bruders, während ihre Füsse vom Steg ins Wasser der Limmat baumeln. Seit einigen Monaten hat sie ihren Bruder nicht mehr gesehen, vermisst ihn. Jenni hat den Kontakt zu ihren Eltern vor sieben Jahren abgebrochen. «Das macht es schwer, für Noah* weiterhin eine grosse Schwester zu sein.»
Jenni wurde als Kind der frühen Neunziger im Zürcher Sihltal gross. Sie spielte im Garten des Einfamilienhauses mit dem Brüderchen verstecken, trug die selbstgebastelte Schultüte voller Stolz zur ersten Lektion der Dorfschule und sprang wie keine andere Gummitwist auf dem Pausenhof. Der Vater war Oberstufenlehrer, die Mutter zum Teil zuhause und zum Teil in der Gemeinde tätig. «Schon so Richtung Politik, aber ohne Glamour und Champagner», erinnert sich Jenni. Ihre Kindheit bezeichnet sie als schön. «Anne war eine Bilderbuch-Mama. Spielte mit uns, war da. Bis mein Vater es verbockte.»
Der Vater «verbockte es» als Jenni 14 war und bereits aufs Gymnasium in Zürich ging. Die Schule, in der Jennis Vater arbeitete, hatte eine Schwangerschaftsvertretung eingestellt, in die er sich verliebte. Ein halbes Jahr flog die Affäre nicht auf. Ein halbes Jahr voller Notlügen, Schwindeleien und ungutem Gefühl. Bis Jennis Mutter von einer Bekannten, deren Mann in derselben Schule angestellt war, auf die Seite genommen wurde. Und alles erfuhr.
Im Haus der Eltern steht ein elektrischer Kamin, darüber hängt das Bild eines Hasen. Jenni hat es gemalt. Anne* erinnert sich an die Zeit der Affäre: «Es war schlimm. Und ich war so wütend. Aber ich wusste, dass wir einen Weg finden würden.» Während sie es erzählt, drückt sie die Hand ihres Mannes Stephan*, der abwesend aus dem Fenster sieht. «Ihm ist das unangenehm», entschuldigt Anne ihn.
Anne hat entschieden, mit watson über ihre Familie zu sprechen. Darüber, wie es zum Bruch mit Jenni kam. Wobei – eigentlich kennt sie die Antwort nicht: Wieso ist Jenni gegangen? Sie stellt sich die Frage täglich.
«Klar gab es Reibereien. Als Stephan seine Affäre beendete, verstand Jenni zum Beispiel nicht, wieso ich ihn nicht verliess. Und sie zog sich immer mehr in sich zurück. Wenn man an sie herankommen wollte, dann wurde sie richtig aggressiv.»
Einmal habe Jenni noch um drei Uhr Nachmittags im Bett gelegen, obwohl die Tante zu Kaffee auf Besuch gewesen sei. Als Anne ihre Tochter darum bat, doch endlich aus dem Zimmer zu kommen, ging Jenni die Wände hoch. Schrie und schlug um sich. «Jenni konnte ziemlich übertreiben.» Drei Jahre später, im Alter von 17, war Jenni weg. Heute ist sie 25.
Als Teenager habe sie sich von den Eltern nicht ernst genommen gefühlt, sagt Jenni. Nicht, als sie voller Stolz vom Plan berichtete, später Ärztin zu werden. Nicht, als sie weinte, weil sie als einzige nicht zum Geburtstag ihrer Chorkollegin eingeladen wurde. Nicht, als sie als 12-Jährige zuhause erzählte, dass ihr Lehrer an ihre Brüste gefasst hatte.
«Stephan sagte zu mir, ich solle mich hüten, solche Lügen zu verbreiten. Als Lehrer sei man immer wieder solchen Anschuldigungen ausgesetzt und gerade von mir habe er deshalb mehr erwartet». Jenni wird auch heute noch wütend, wenn sie von früher erzählt. Und es macht sie wütend, noch wütend zu werden.
«Es hat unendlich viel gebraucht, bis ich mich entschieden habe, meine Eltern zu verlassen, den Kontakt komplett abzubrechen», erzählt Jenni und blickt dabei verzweifelt auf. «Das tut man nicht leichtfertig oder weil man ein bisschen verletzt wurde. Ich habe es erst an dem Punkt gekonnt, an dem ich sonst gestorben oder durchgedreht wäre. An dem ich mich selbst ganz verloren hätte.»
Jenni hat seit ihrer frühen Pubertät das Gefühl, in ihrem früheren Ich festgehalten zu werden: Ja, ihre Eltern liebten sie. Aber ihre Eltern liebten sie als das kleine Mädchen, das hilfsbedürftig war, das keine eigenen Entscheidungen fällen konnte, das nie auf Augenhöhe wahrgenommen und respektiert wurde.
Je mehr Jenni zu einem eigenständigen Menschen wurde, desto grösser wurde auch der Widerstand der Eltern. Für ihren Musikgeschmack fühlte sie sich kritisiert, hatte das Gefühl, für ihre Meinung über Wirtschaftsflüchtlinge belächelt zu werden. Ihre Eltern nie zufrieden stellen zu können, solange sie eine eigene Meinung hatte. «Ich hatte das Gefühl, dass mich meine Eltern fürs erwachsen werden hassten. Als sich mein Körper veränderte, ich Hüften und Brüste bekam, war ich zum Beispiel konstantem Bodyshaming ausgesetzt».
Sprüche über ihre «unförmig aussehenden, spriessenden Brüstchen» nahmen Jenni zunächst jegliches Selbstvertrauen, dann die Möglichkeit, ihren Körper zu akzeptieren. «Für Stephan waren das nur Witze. Er hat nicht verstanden, wie schlecht ich mich fühlte, wenn er mit Noah darüber lachte, dass ich wohl nun ‹was abbinden› müsse, damit sich seine Freunde noch konzentrieren können».
Jenni begann sich selbst zu verletzen. Erst ritzte sie sich. «Sie warfen mir vor, sie damit bestrafen zu wollen.» Deshalb begann sie sich selbst zu schlagen, sodass ihre Eltern ihr keine Vorwürfe machen konnten. Jenni verlor ihr Vertrauen und zog sich in sich zurück.
Jennis Mutter wertete das Abkapseln als Phase, welche nach mehr Struktur und Grenzen verlange. «Sie war ein schwieriger Teenager, sie brauchte Regeln», erinnert sich Anne. Stephan nickt geistesabwesend.
Mehr Regeln bedeutete für Jenni das Brechen ihres Willens. «Sie hat das Zimmer abgeschlossen, als ich nicht respektieren wollte, mich nicht mit Freunden treffen zu dürfen. Stundenlang wurde ich eingeschlossen, immer wieder. Und das nur weil ich nicht reden wollte», sagt Jenni. «Und als ich dann durchs Fenster aus dem ersten Stock gesprungen bin, hat Stephan mir nur nachgerufen, ich sei ein Missstück und undankbar. So eine Tochter wollen sie nicht.»
Stephan trinkt seinen dritten Kaffee, während seine Frau spricht. Konzentriert versenkt er ein paar Löffel Zucker in der Tasse. Dann sieht er auf. «Natürlich haben wir Fehler gemacht. Wir sind nun mal Menschen. Jenni aber hat den Anspruch, dass wir als Eltern fehlerlos zu sein haben. Sie ist dermassen intolerant und kappt unsere Beziehung, anstatt zu verzeihen». Er nimmt einen grossen Schluck. «Und Anne sucht noch immer den Fehler bei uns. Das macht es für uns nicht einfacher». Noah leide am meisten, fügt seine Frau an. Er rede so viel von Jenni. Er glorifiziere sie.
Als Jenni vor sieben Jahren ging, war Noah auch der einzige, der ihre neue Adresse kannte. Der Vater verdrehte nur die Augen, die Mutter sah es als Provokation.
Dabei sei es an der Zeit, dass auch Noah anerkennen würde, dass Jenni egoistisch handle. Sich aus dem Staub gemacht hat, ohne der Familie eine Chance zu geben. Stephan richtet seinen Blick wieder durchs Fenster nach draussen.
«Ich sehe keinen Weg mehr, mit meiner Familie ins Reine zu kommen. Die einzige Macht, die ich habe, ist, ihnen keine Macht mehr über mich zu geben». In ihrem ganzen Wesen fühlt sich Jenni nicht respektiert. Eine Aussprache sei deshalb unmöglich.
Dann lächelt sie ihre Trauer weg, zieht ihre Füsse aus dem eiskalten Limmatwasser und verabschiedet sich. Sie muss los, damit sie pünktlich zur Vorlesung des Medizinstudiums kommt.
Das letzte Mal, dass die Mutter Jenni gesehen hat, war vor einem halben Jahr. «Ich war in Zürich zum Einkaufen für Weihnachten. Ich brauchte noch Saucen für das Fondue Chinoise. Da stand sie auf einmal an einem Stand und betrachtete Wollmützen. Als ich ihren Namen rief, drehte sie sich um.»
Sie muss durchatmen, nun verzieht sich ihr Gesicht und Anne versucht, Stärke zu bewahren. «Sie hat sich einfach wieder umgedreht und ist in der Menge verschwunden. Kein ‹hallo›, nichts». Anne habe dann die Mütze gekauft, die Jenni betrachtet hatte und als Geschenk einpacken lassen. Erreicht habe die Mütze Jenni aber nicht.
Wieso nicht?
Anne schüttelt nur den Kopf und wischt sich schnell ihre Tränen aus den Augen, als Stephan mit der neuen Kanne Kaffee und einer Platte Gebäck aus der Küche zurückkommt.
*Alle Namen wurden von der Redaktion aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.