Laut den jüngsten Umfragen lehnt eine Mehrheit der Schweizer die No-Billag-Initiative ab. Das Forscherteam vom Institut GFS Bern berechnete, dass derzeit 65 Prozent der Wählerinnen und Wähler bestimmt oder eher gegen die Abschaffung der Gebühren stimmen würden. Der Ausgang der Abstimmung vom kommenden Sonntag dürfte demnach klar ausfallen.
Ausser im Kanton Tessin. Anders als in der restlichen Schweiz ist dort die Zustimmung für die Initiative in den letzten Monaten gewachsen. In der Vorabstimmungsanalyse sprachen sich 48 Prozent der Befragten gegen und ebenfalls 48 Prozent für die Initiative aus. Vier Prozent waren noch unentschieden. In der Studie hiess es, derzeit baue sich die Sympathie für die Vorlage auf. Es sei denkbar, dass es am Sonntag im Kanton zu einem «Ja» komme.
Diese Tendenz ist bemerkenswert. Denn kein anderer Kanton profitiert so stark von den Radio- und Fernsehgebühren wie das Tessin. Von den gesamtschweizerischen Einnahmen aus der Billag-Gebühr fliessen 20 Prozent in die RSI, die Radiotelevisione Svizzera di lingua italiana, dem italienischsprachigen Ableger der SRG. Ein hoher Anteil angesichts dessen, dass die italienische Schweiz mit dem Tessin und den Südbündner Täler nur acht Prozent der Schweizer Gesamtbevölkerung ausmacht.
Zudem ist die RSI punkto Mitarbeiterzahl der viertgrösste Arbeitgeber im Kanton. 1155 Personen sind beim Radio- und Fernsehunternehmen beschäftigt, dessen Wertschöpfung beläuft sich laut einer Schätzung auf jährlich auf 213 Millionen Franken. Rund 850 Tessiner Firmen erhalten von der RSI Aufträge und sie ist Partner von verschiedenen Kulturanlässen, der bekannteste darunter ist das Filmfestival Locarno.
Warum also sind viele Tessiner mit der RSI unzufrieden und wollen keine Billag mehr bezahlen?
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Tessiner anders als die Mehrheit der Schweizer gegen die Billag stellen. Bereits 2015 verwarfen die Tessiner Stimmberechtigten mit 52 Prozent die Revision des Radio- und Fernsehgesetzes (RTVG) an der Urne. In der gesamten Schweiz wurde das neue Bundesgesetz mit einem hauchdünnen «Ja» von 50,1 Prozent angenommen. Schon damals entbrannte in der Öffentlichkeit eine Debatte darüber, warum ausgerechnet der Südkanton, der von allen vier Sprachregionen am meisten von der Gebührenverteilung profitiert, gegen die RTVG-Vorlage stimmte.
Für Lorenzo Quadri, Lega-Nationalrat und prominentester Billag-Gegner im Tessin, ist das kein Widerspruch. Weder damals bei der Vorlage von 2015 noch heute. Vielmehr sei das «Ja» zu No Billag ein Zeichen, dass offenbar viele Tessiner verantwortungsbewusster seien als die Führungskräfte der RSI. «Wir Tessiner respektieren das Geld unserer Deutschschweizer Mitbürger und finden es wichtig, aufzuzeigen, dass es schlecht ausgegeben wird. Schliesslich sind dies öffentliche Gelder.»
Viele sind laut Quadri der Meinung, dass die RSI ihr Mandat missbraucht, um parteipolitische Propaganda zu betreiben. Für sie sei die RSI zu gross, zu teuer, zu arrogant. «Im Vergleich zur übrigen Schweiz ist die Kluft zwischen der Bevölkerung und der RSI im Tessin wahrscheinlich grösser.»
Warum diese Kluft grösser ist, versucht Moreno Bernasconi zu erklären. Der frühere Chefredaktor der Zeitung «Corriere del Ticino» ist heute pensioniert und schreibt als Freelancer Kolumnen – in den letzten Monaten vor allem zur No Billag und warum die Initiative abzulehnen ist. Doch es scheint, als ob seine Bemühungen vergeblich waren, zumindest in seinem Heimatkanton.
«Die Tessiner waren schon immer ein kritisches Publikum», sagt Bernasconi. In den 70er- und 80er-Jahren sei der öffentliche Diskurs linksorientiert gewesen. Eine Mehrheit sei den Institutionen gegenüber kritisch eingestellt gewesen. Das sei zwar heute noch immer so, doch anders als damals sei diese Haltung jetzt Angelegenheit der rechten Parteien. «Die Lega ist die stärkste Partei im Kanton. Und sie prägt die öffentliche Debatte gegen die Institutionen heftig mit.»
Wie stark die No-Billag-Befürworter die Debatte mitprägen, zeigt auch eine Auswertung der Abstimmungskampagne im Tessin. Nirgendwo sonst in der Schweiz wird aggressiver um die Zustimmung für die Initiative geworben. Das Institut für Politikwissenschaft, Année Politique Suisse, hat die Inseratekampagne zur No-Billag-Initiative untersucht und festgestellt, dass die Pro-Kampagne im Südkanton markant mehr Inserate schaltet als im Rest der Schweiz.
Das Engagement der No-Billag-Befürworter scheint Früchte zu tragen. Auch bei der RSI selbst ist man sich bewusst, dass die Kritik am Unternehmen besteht und über die Jahre immer lauter geworden ist. Luigi Pedrazzini ist Präsident der Corsi, der SRG-Trägerschaft im Tessin. Er sagt, 2015 habe man eine Umfrage in Auftrag gegeben, die gezeigt habe, dass eine Mehrheit der Tessiner und der italienischsprachigen Bündner mit der RSI und deren Programm zufrieden seien. «Doch als negativ empfunden wurde von vielen die Grösse des Unternehmens und seine Distanz zur Bevölkerung», sagt Pedrazzini.
Auch heute sind die häufigsten Kritikpunkte an der RSI die Privilegien der Mitarbeiter, die linke Tendenz und eine gewisse Arroganz gegenüber dem Publikum, sagt Pedrazzini. Für ihn seien diese Vorwürfe nicht gerechtfertigt. «Nichtsdestotrotz muss sich die RSI aber darum bemühen, die Kritik ernst zu nehmen und zu analysieren.»
Eine Einsicht, die vielleicht zu spät erfolgt. Denn wenn die No-Billag-Initiative im Tessin am Sonntag an der Urne angenommen wird, könnte das für den Kanton weitreichende Folgen haben – selbst dann, wenn sich in der gesamten Schweiz die Initiativ-Gegner durchsetzen werden. Dessen ist sich auch Pedrazzini bewusst: «Wenn sich ein ‹Ja› im Tessin durchsetzt, wird der Verteilungsschlüssel der Gebühren zwangsläufig in Frage gestellt. Das wird dazu führen, dass der RSI weniger Mittel zur Verfügung gestellt werden.»
Dem widerspricht Alain Bühler, SVP-Gemeinderat von Lugano und Präsident des No-Billag-Unterstützerkomitees im Tessin. «Wird die Initiative nur in unserem Kanton angenommen, müsste mit der RSI zwar viel passieren», sagt er. Dass damit eine Änderung des Verteilschlüssels einher geht, glaubt er allerdings nicht. Immerhin sei in den letzten Monaten ständig von dem «nationalen Zusammenhalt» gesprochen worden. Dass in der Folge der italophonen Sprachminderheit die Mittel gekürzt würden, widerspräche dieser Propaganda, findet Bühler.
Welche Konsequenzen die Abstimmung haben wird, zeigt sich nach kommendem Sonntag. Klar ist: Viele Ticinesi werden an der Urne als Protest gegen die RSI, gegen die Bürokraten in der Hauptstadt und allgemein gegen die in ihren Augen linken Institutionen ein «Ja» einwerfen. Für Corsi-Präsident Pedrazzini eine kurzsichtige Haltung. «Damit wird den Interessen der italienischsprachigen Schweiz geschadet», sagt er.