Und plötzlich standen Journalisten, Weibel und Fotografen im Nationalratsaal auf und sangen: «’S isch mer alles ei Ding, ob i lach oder sing.» Das Berner Ensemble Ardent hatte sich am Freitag Morgen mit Stift und Papier auf die Journalistentribüne geschlichen und in grünem Weibel-Jackett den Politikern Post verteilt.
Als dann der letzte abtretende Nationalrat gewürdigt und mit Applaus verabschiedet worden war, legte der Chor los. Die Parlamentarier wussten nicht, wie ihnen geschah, immer entdeckten sie wieder einen neuen Sänger im vollen Saal. Der Flashmob sang «chante en mon cœur» und «spazzacamin».
Der Präsident Stéphane Rossini (SP), der den Flashmob eingefädelt hatte, machte sich so gleich selbst ein Geschenk: Auch er sass das letzte Mal im auf seinem Präsidentensitz im Nationalratssaal. Rossini verlor nicht nur zu abtretenden Parteikolleginnen wie Jacqueline Fehr und Maria Bernasconi freundliche Worte, er würdigte alle 25 Mitstreiter, die sich im Oktober nicht zur Wiederwahl stellen.
Darunter politische Schwergewichte wie Christophe Darbellay (CVP), Gabi Huber (FDP) und Toni Bortoluzzi (SVP). Das Parlament verliert aber auch schillernde Figuren wie Oskar Freysinger (SVP), Andi Gross (SP) oder Geri Müller (Grüne).
Dass jeder abtretende Parlamentarier einzeln gewürdigt wird, war bis vor ein paar Jahren jenen vorbehalten, die während laufender Legislatur aus dem Rat geschieden sind. Christine Egerszegi, Nationalratspräsidentin 2006/2007, empfand das als ungerecht und änderte die Regeln. So kam die Aargauerin an ihrem letzten Tag als Ständerätin selbst in den Genuss einer ausführlichen Würdigung.
Präsident Claude Hêche verabschiedete elf Kollegen. Nicht nur seine Worte, auch das Flair waren ungleich intimer als im Schwesterrat. Vielleicht, weil sich vor Geschäft 15.9011, «Verabschiedung ausscheidender Ratsmitglieder», bereits alle einmal umarmt oder geküsst haben – nur Verena Diener flüchtete auf die Tribüne, um die Abschiedszeremonie auszulassen (umarmt wurde sie dann im Anschluss).
Apropos Freundschaft: Die kleine Kammer traf sich gestern in aller Herrgottsfrühe zum gemeinsamen Zmorge. Der Teamspirit bewegte sogar Morgenmuffel dazu, um sechs Uhr aufzustehen. Die Vertrautheit kommt indes nicht von Ungefähr: Die Kollegen lernen sich in den Kommissionen besser kennen.
Hêche lobte die Kollegen: «Durch Ihren Erfahrungsschatz, Ihre Eloquenz, Ihr Fachwissen, aber auch Ihren Witz waren Kompromisse möglich, die unser politisches System auszeichnen.» Wenn diese Worte sich legen, hallt das ungute Gefühl nach, dass das jetzt alles verloren geht. Immerhin hat der Ständerat noch eine mehrheitsfähige Reform der Altersvorsorge gezimmert, die in einer anderen Konstellation undenkbar gewesen wäre.
Jetzt treten Strippenzieher Felix Gutzwiller (ZH), Urs Schwaller (FR), Christine Egerszegi (AG) und Verena Diener (ZH) ab. Und mit Peter Bieri (ZG) verlässt der ärgste Gegner der Digitalisierung das Stöckli. Nach peinlichen Zählpannen bei wichtigen Abstimmungen verabschiedete sich auch die kleine Kammer vom traditionellen Handaufheben. Dieser Entscheid, zusammen mit dem Atomausstieg verdient das Etikett «historisch».
Doch braucht man die Leistung der Abtretenden nicht zu übersteigern: Die kleine Kammer hat das Ausstiegsziel bezüglich Atomkraft in der letzten Woche der Legislatur noch verwässert. Und sie hat Entscheide gefällt, die an der Gelagertheit der Hirnlappen zweifeln lassen: Die «chambre de refléxion» hat Höckerschwäne zum Abschuss freigegeben, den Läden nahegelegt, ihre Türen möglichst lange geschlossen zu halten, und schliesslich sollen nicht registrierte Pistolen und Gewehre auch in Zukunft nicht gemeldet werden müssen.
Wenn gestern den einen Parlamentarier im Hinblick auf ihren Rücktritt das Augenwasser kam, löste diese Aussicht bei anderen die Zügel: Georges Theiler (LU/FDP) teilte während der Energiedebatte nochmals auf alle Seiten aus. Und Christine Egerszegi kündigte im Hinblick auf ihren Rücktritt an: «Jene die deswegen jetzt die Korken knallen lassen, müssen sie womöglich bald wieder auf die Flasche stecken.»
Wohin es sie in Bern verschlagen wird, verrät sie nicht. Nur so viel: Kurzfristig reist sie in die Ferne – zusammen mit Verena Diener, René Imoberdorf (VS) und Hans Hess (OW) machen sie dreieinhalb Wochen Ferien auf dem Inselstaat. Denn bis Ende November ruft die Kommissionsarbeit.