Leicht indigniert reagierten sie schon, die Bündner CVP-Granden. Der Positionsbezug von Filippo Lombardi verblüffte sie. Der CVP-Fraktionschef hatte in einer Gastkolumne im «Corriere del Ticino» zwei Bundesratssitze für die SVP gefordert. Die Abwahl Blochers sei «ein Fehler» gewesen, schrieb er. Damit steht Eveline Widmer-Schlumpf im Fokus.
«Diskutieren kann man das», sagt CVP-Nationalrat Martin Candinas. Wie alle Bündner CVP-Politiker ist er am Freitag in Bonaduz am CVP-Wahlauftakt, mit Bundesrätin Doris Leuthard. «Zuerst müssen wir die Wahlen gewinnen», sagte er: «Als Bündner unterstütze ich eine Bündner Kandidatur. Da bin ich zu sehr Bündner.»
Noch deutlicher wird Ständerat Stefan Engler. «Das war ein unnötiges Statement», sagt er. Den Entscheid, ob sie nochmals antrete, fälle Widmer-Schlumpf «allein». Sie werde den Ausgang der Wahlen abwarten. «Nicht aus Angst. Sie ist eine furchtlose Frau. Aber sie wird das Wohl des Landes berücksichtigen, nicht nur ihr eigenes Ego.»
Die Irritationen in der CVP sind gross. Viele CVP-Politiker versuchten, sich in Telefonaten ein Bild zu verschaffen. Lombardis Gastbeitrag sei «ein fundamentaler Fehler», sagt ein Parlamentsmitglied. Knapp zwei Monate vor dem 19. Oktober öffne er das Feld für jene Diskussion, die in der CVP niemand führen wollte: die Causa Widmer-Schlumpf. «Lombardi hat nun als Fraktionschef diese Debatte legitimiert.»
Es ist die CVP, die im Dezember Königsmacherin sein wird. Sie entscheidet, ob Widmer-Schlumpf wiedergewählt wird oder ob die SVP einen zweiten Sitz erhält. Recherchen zeigen immer deutlicher, dass es für Widmer-Schlumpf sehr eng wird. Zwei Parlamentarier sind sicher, dass sich zwischen einem Drittel und der Hälfte der Fraktion gegen die Bündnerin entscheiden werden. Sie wollen sich nicht zitieren lassen.
Der Tessiner Nationalrat Fabio Regazzi hingegen steht zu seiner Analyse. «Ich schätze, bis zu einem Drittel der CVP-Fraktion könnte eine SVP-Kandidatur unterstützen», sagt er. «Unter der Bedingung, dass die SVP glaubwürdige Kandidaten bringt.» Das hänge damit zusammen, «dass die CVP bürgerlicher geworden ist als in der Vergangenheit». Dass die BDP die Union mit der CVP nicht wolle, trage ebenfalls dazu bei, sagt Regazzi. Er wird für die SVP stimmen. «Die stärkste Partei der Schweiz hat Anrecht auf zwei Bundesratssitze», sagt er. «Ich sehe nicht ein, weshalb die SP als zweitstärkste Partei zwei Sitze haben sollte und die SVP als stärkste nur einen.» Aus «Gründen der Gerechtigkeit» müsse Widmer-Schlumpf Platz machen.
Ist Lombardis Beitrag im «Corriere del Ticino» «im Tessiner Kontext» zu sehen, wie Präsident Christophe Darbellay sagt? Er betont: «Das ist weder die Meinung der Fraktion noch der Partei. Es ist die Meinung von Filippo Lombardi ad personam.» Kenner des Tessins teilen Darbellays Einschätzung. Lombardi sei im Tessin stark unter Druck geraten, wegen seiner Europa-Positionierung. Die Lega und ihr Sonntagsblatt «Il Mattino della Domenica» haben ihn ins Visier genommen.
Lega-Grossrat Boris Bignasca hat auch Fragen zum Neubau der «Nuovo Valascia» des HC Ambri-Piotta gestellt, dessen Verwaltungsratspräsident Lombardi ist. Da kommt ihm der Konflikt um Widmer-Schlumpf nicht ungelegen. Sie gilt im Tessin als rotes Tuch.
Dass Lombardi zwei Monate vor den Wahlen die langjährige Führungsriege mit Darbellay und Fraktionschef Urs Schwaller attackiert, lässt viele ratlos zurück. Er macht sie damit verantwortlich für die Krise, die er seit 2007 ortet. Bundesrätin Doris Leuthard urteilt mit Gelassenheit. «Das ist eine müssige Diskussion», sagt sie. «Meine Kollegin macht ihre Arbeit gut. Deshalb ist es ihr persönlicher Entscheid, ob sie nochmals antritt oder nicht.» An sich sei es «aber verständlich, dass die SVP als stärkste Partei mit Verweis auf die Zauberformel Anspruch auf zwei Sitze» erhebe. Die Frage sei nur, so Leuthard: «Wann ist der Zeitpunkt dafür gekommen? Ausserdem ist die Persönlichkeit entscheidend: Der Bundesrat ist eine Kollegialbehörde.»
Widmer-Schlumpf lässt alles offen. Sie sage «nie etwas» zur Frage, ob sie nochmals antrete. Zu Lombardis Aussagen will sie sich nicht äussern.