Die erste Woche der Herbstsession ist vorbei. Ihr Höhepunkt rückt näher, die Wahl des Nachfolgers oder der Nachfolgerin von FDP-Bundesrat Didier Burkhalter am nächsten Mittwoch. Die Fieberkurve im Bundeshaus steigt. Es ist die grosse Zeit der Gerüchteköche und Schaumschläger.
Sie sind dieses Jahr besonders gefragt, weil die Spannung klein ist. Grosser Favorit war von Anfang an der Tessiner FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis. Nach den ersten Hearings vom Dienstag bei SVP, CVP und Grünen ist er es mehr denn je. Entsprechend locker präsentierte er sich am Ende des Schaulaufens vor den Medien: «Ich bin zufrieden, ich war mich selber.»
Wo wenig Spannung ist, da muss man sie künstlich erzeugen. So geschehen, nachdem sich Cassis als Befürworter einer Kokain-Legalisierung geoutet hatte. Der Aargauer SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner gab den Tessiner im «Blick» zum Abschuss frei: «In der SVP verliert er damit zwei Drittel der Stimmen, die gehen nun zu Pierre Maudet – oder es gibt Stimmenthaltungen.»
In der realen Welt konnte sich Cassis in der SVP-Fraktion über einen Erdrutschsieg freuen. Während Maudet mit Pauken und Trompeten durchfiel und nur eine Stimme holte. Ulrich Giezendanner gab dem SRF ungeniert zu Protokoll, dass auch er Cassis seine Stimme gegeben habe, nachdem dieser sich ihm gegenüber in Sachen Drogenpolitik erklärt habe.
In der Fraktion wurde dieses Thema offenbar nicht einmal erwähnt. Was nicht überrascht. Aus Sicht der SVP ist Ignazio Cassis schlicht der verlässlichste Kandidat für eine rechtsbürgerliche Politik im Bundesrat. Pierre Maudet hingegen ist Mitglied der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs), und er hat sich als Regierungsrat für die Legalisierung von Sans-Papiers stark gemacht. Aus Sicht eines strammen SVPlers hat er damit gleich zwei Todsünden begangen.
Aus den Reihen von CVP und Grünen wurde Maudet ein starker Auftritt attestiert, und doch bleibt es schleierhaft, wie der Genfer die Wahl gewinnen will. Selbst in den eigenen Reihen dürfte er nur wenige Stimmen holen. Obwohl die FDP-Fraktion ihn auf das Dreierticket hievte, werde der Outsider als «Störenfried» wahrgenommen, heisst es im Bundeshaus.
Ähnlich schwierig bleibt es für Isabelle Moret. Die Waadtländerin hat als Wahlkämpferin nicht geglänzt. Bei der SVP holte sie einige Sympathie-Stimmen, wegen ihre bauernfreundlichen Haltung und weil sie klar auf Distanz zum Rahmenabkommen mit der EU gegangen ist. In den anderen Fraktionen wurde ihre Performance unterschiedlich aufgenommen. Während sie von Männern gelobt wurde, sagten zwei CVP-Frauen, ihr Auftritt sei «zum Fremdschämen» gewesen.
Liegt da ein Fall von Zickenalarm vor? Tatsache ist, dass Moret neben dem Frauenbonus kaum Argumente vorweisen kann, warum man sie als zweite Vertretung der Waadt in den Bundesrat wählen soll. Was eine Tür für Pierre Maudet öffnen könnte. Im Mitte-Links-Lager zerbricht man sich offenbar den Kopf, mit wem man den «SVP-Mann» Cassis verhindern kann.
Das genügt anscheinend, um SVP-Leute nervös zu machen. Der Luzerner Nationalrat Felix Müri verstieg sich gegenüber der «Aargauer Zeitung» zur Behauptung, Bundespräsidentin Doris Leuthard werde sich in der CVP-Fraktion für Pierre Maudet einsetzen, um eine Mitte-Links-Mehrheit im Bundesrat zu sichern. In der CVP sorgt dies für Kopfschütteln, zumal Leuthard selber bald zurücktreten wird.
Ein führender Vertreter der Partei hält es immerhin für möglich, dass es zum Showdown zwischen Cassis und Maudet kommen wird. SP-Chef Christian Levrat sehe im Genfer «einen zweiten Burkhalter», also einen Mehrheitsbeschaffer für die Linke. Für einen Sieg aber braucht Maudet Stimmen aus der CVP, und dort lobbyieren die Tessiner stark für ihren «Landsmann» Cassis.
Deshalb bleibt jenes Szenario realistisch, das zwei Topshots aus ideologisch sehr unterschiedlichen Parteien unabhängig voneinander skizzieren: Ignazio Cassis wird es am Mittwoch schaffen. Für ihn stimmen werden fast die gesamte SVP, zwei Drittel der FDP und rund die Hälfte der CVP. Unter Umständen könnte er schon im ersten Wahlgang gewinnen.
Vielleicht platzt noch eine Bombe. Und mit Sicherheit wird in den nächsten Tagen viel Schaum geschlagen. Das ändert nichts an der Erkenntnis, zu der auch die linke «Wochenzeitung» gekommen ist: «Auf eine Überraschung deutet eine Woche vor der Wahl aber rein gar nichts hin.»