Schweiz
Durchsetzungsinitiative

Durchsetzungsinitiative: Lange Verfahren und hohe Kosten

Verhandlungssaal des Bezirksgerichts Zürich: Die SVP-Initiative dürfte der Justiz Mehrarbeit bescheren.
Verhandlungssaal des Bezirksgerichts Zürich: Die SVP-Initiative dürfte der Justiz Mehrarbeit bescheren.
Bild: KEYSTONE

Wer kriminell wird, fliegt raus? Von wegen: Mit der Durchsetzungs-Initiative drohen lange Verfahren

Geht es nach dem Willen der SVP, sollen straffällige Ausländer schnell ausgeschafft werden. Die Umsetzung ihrer Initiative aber dürfte kompliziert und teuer werden.
26.01.2016, 09:5927.01.2016, 12:02
Mehr «Schweiz»

Ein junger Türke, der fast sein ganzes Leben in der Schweiz verbrachte, wird mehrfach straffällig. Das Bundesgericht ordnete seine unbefristete Ausschaffung an. Der Türke wehrt sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und erhält Recht. Darauf wird der Landesverweis auf zehn Jahre reduziert. Auch dieses Verdikt akzeptiert der Verurteilte nicht, er geht erneut nach Strassburg und gewinnt vor dem EGMR ein zweites Mal.

Es handelt sich nicht um ein fiktives Beispiel. Der Fall ist echt: Emre E. wurde 1980 in der Türkei geboren und kam als Sechsjähriger in die Schweiz. Er beging zahlreiche Delikte, darunter schwere körperliche Gewalt, Raub und Vergehen gegen das Waffengesetz, und sass dafür im Gefängnis. Gegen seine Wegweisung wehrte sich Emre E. vor dem EGMR mit Verweis auf den geringen Bezug zu seinem Ursprungsland. 2008 und 2011 setzte er sich damit durch.

Der Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg.
Der Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg.
Bild: EPA DPA
Wie gedenkst du, bei der Durchsetzungs-Initiative abzustimmen?

Solche Fälle will die SVP in Zukunft verhindern: «Es ist das Ziel unserer Initiative, bezüglich Landesverweisungen einen klaren, zwingenden Rahmen vorzugeben. Diesbezüglich sollen die Gerichte nicht mehr jede Frage selber entscheiden können», sagte der Zürcher Nationalrat Gregor Rutz dem Tages-Anzeiger. Was die Urteile aus Strassburg angeht, hat die SVP im Initiativtext eine eindeutige Vorgabe formuliert: «Die Bestimmungen über die Landesverweisung und deren Vollzugsmodalitäten gehen dem nicht zwingenden Völkerrecht vor.»

Gerichte halten sich an Verträge

undefined

Für die Gegner der Initiative sind Konflikte mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) programmiert. Sie argwöhnen, dass die SVP mit der Durchsetzungsinitiative indirekt einen Austritt der Schweiz aus der EMRK anstrebt, was die Partei bestreitet. Allerdings kollidiert die Initiative mit weiteren internationalen Verträgen, etwa dem Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit, das Ausschaffungen von EU-Bürgern wegen Bagatelldelikten untersagt, sowie der UNO-Kinderrechtskonvention, die die Rechte von Minderjährigen schützt.

Wie die Gerichte mit diesem Zielkonflikt umgehen werden, ist eine offene Frage. Der Berner Staatsrechtler Jörg Künzli verwies im Interview mit der Aargauer Zeitung auf die bisherige Praxis des Bundesgerichts. Dieses sei bis jetzt «richtigerweise» davon ausgegangen, dass es sich an geltende Verträge halten müsse – «auch wenn eine einzelne Verfassungsbestimmung etwas anderes sagt». Zu diesen Verträgen zähle auch die EMRK. Bleibe das Bundesgericht bei dieser Praxis, werde die Durchsetzungsinitiative «sicher nicht vollständig umgesetzt werden».

«Promi-Anwalt» Lorenz Erni rechnet mit Mehraufwand und Mehrkosten.
«Promi-Anwalt» Lorenz Erni rechnet mit Mehraufwand und Mehrkosten.
Bild: AP

Andere Juristen sind skeptischer, sie verweisen darauf, dass der detaillierte Initiativtext wenig Spielraum bei der Urteilsfindung zulasse. Die frühere Bundesrätin und Justizministerin Elisabeth Kopp erwähnte in der Schweiz am Sonntag einen weiteren Aspekt: «Die Gerichte stehen in der Schweiz unter politischem Einfluss. Richter müssen von Parlamenten wiedergewählt werden. Wer sich nicht dem politischen Mainstream fügt, wird abgestraft oder sogar abgewählt.»

Kosten in zweistelliger Millionenhöhe

Falls sich die Gerichte an den Wortlaut des Volksbegehrens halten, dürfte einiges an Mehrarbeit auf sie zukommen. Der renommierte Zürcher Strafverteidiger Lorenz Erni, zu dessen Klienten neben «Promis» wie Sepp Blatter und Roman Polanski auch Kleinkriminelle gehören, rechnet im Interview mit dem «Magazin» damit, dass nach einem Ja am 28. Februar vermehrt Rechtsmittel ergriffen werden, «was zu einer Mehrbelastung der Gerichte und zu Mehrkosten führt».

Weil selbst leichte Vergehen zwingend zu einer Landesverweisung führen sollen, würden auch «reuige» Straftäter praktisch dazu gezwungen, «alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um der Landesverweisung doch noch zu entgehen», glaubt Erni. Auf der «Gegenseite» beurteilt man dies ähnlich. Der Berner Generalstaatsanwalt Rolf Grädel, Präsident der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz, warnte in der «NZZ am Sonntag» vor Mehrkosten in zweistelliger Millionenhöhe.

Heute werden leichtere Delikte in der Regel per Strafbefehl vom Staatsanwalt sanktioniert. Wenn zusätzlich eine Landesverweisung drohe, bräuchten zahlreiche Ausländer künftig einen amtlichen Verteidiger, argumentiert Grädel, der pikanterweise Mitglied der SVP ist. Verschiedene Gerichte, darunter das Bundesgericht, hätten in der Vergangenheit entschieden, dass Beschuldigte, denen eine Landesverweisung drohe, zwangsläufig verteidigt werden müssten. Der Versuch, die Kosten bei den Verurteilten einzutreiben, sei in den meisten Fällen erfolglos, so die «NZZ am Sonntag».

Gerichtsverfahren statt Strafbefehl

Es könnte aber noch dicker kommen: Grädel geht davon aus, dass straffällige Ausländer mit der möglichen Ausschaffung vor Augen vermehrt «den vollständigen Instanzenweg» in Anspruch nehmen werden. Mit anderen Worten: Aus einem simplen Strafbefehl kann ein ausgewachsenes Gerichtsverfahren entstehen, mit entsprechendem Aufwand und Kosten für die Allgemeinheit. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) wären 2014 mehr als 10'000 Personen aufgrund der Bestimmungen der Initiative ausgewiesen worden – die Hälfte davon wegen leichterer Delikte.

«Todeskammer» in den USA: Hinrichten ist teurer als einsperren.
«Todeskammer» in den USA: Hinrichten ist teurer als einsperren.
Bild: Eric Risberg/AP/KEYSTONE

Alles Panikmache? Es gibt ein illustres Beispiel dafür, dass härtere Strafen den Justizappart nicht entlasten, sondern zusätzlich auf Trab halten: In den USA ist es teurer, einen Menschen hinzurichten, als ihn für den Rest seines Lebens ins Gefängnis zu stecken. Der Grund ist simpel: Wer um sein Leben fürchtet, greift nach jedem juristischen Strohhalm, mit entsprechenden Kosten. Sie gelten als Grund dafür, warum die Akzeptanz der Todesstrafe in den USA rückläufig ist.

Durchsetzungsinitiative
AbonnierenAbonnieren

Bei der Durchsetzung-Initiative geht es nicht um Leben und Tod. Aber auch eine Ausweisung aus der Schweiz ist eine einschneidende Massnahme. Die Vermutung, dass langwierige und kostspielige Verfahren zunehmen werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Wer sich über Emre E. aufregt, sollte dies bedenken. Derart krasse Einzelfälle werden durch die Initiative nicht verhindert, sie werden sich häufen.

Du hast watson gern?
Sag das doch deinen Freunden!
Mit Whatsapp empfehlen

[pbl, 16.02.2016] Durchsetzungs-Initiative

Alle Storys anzeigen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
44 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Scaros_2
26.01.2016 11:02registriert Juni 2015
Die SVP ist im Grunde schon sehr effizient. Sie sammelt wählerstimmen mit populistischen Themen die alle betreffen und machen den Leuten effizient vor wie sie die Probleme lösen möchte. Die Leute glauben das und glauben das wir Probleme haben die man lösen muss. Dabei wird gekonnt alles ignoriert was mit dem Ausland bestand hat, Verträge usw. Man tut so als wäre man ein unabhängiges gallisches Dorf. Und wenn das Zeug angenommen wird ist es nie das Problem der SVP das die Umsetzung scheitert und sie macht gekonnt die andere Seite verantwortlich und auch hier glaubt das Volk, national Win-Win.
12416
Melden
Zum Kommentar
avatar
Palatino
26.01.2016 11:57registriert Juli 2015
Wenn es denn bloss die Kosten der üblicherweise anfallenden Strafverfahren wären... Die DSI fördert ein Denunziantentum, welches den Justizapparat nur unnötig weiter belastet.
5314
Melden
Zum Kommentar
avatar
saukaibli
26.01.2016 10:32registriert Februar 2014
Die USA sind ein gutes Beispiel für alle, die behaupten mehr Repression führe zu weniger Delikten. In den USA kommt man schon bei wiederholten leichten Delikten ins Gefängnis und trotzdem gibt es in den USA mehr Kriminalität als in den meisten anderen westlichen Ländern. Dieses Argument zieht also schon mal nicht. Dann bleibt eigentlich nur noch als Grund übrig, möglichst viele nicht reiche Ausländer auszuschaffen. Finanzbetrug, ein typisches Delikt von Reichen, zählt ja bei der SVP nicht als Verbrechen und führt nicht zur Ausschaffung.
6527
Melden
Zum Kommentar
44
IWF rechnet 2024 mit moderat festerem BIP-Wachstum in der Schweiz

Die Schweizer Wirtschaft dürfte laut dem Internationalen Währungsfonds IWF im Jahr 2024 wieder anziehen. Zugleich vergab der IWF im jährlich durchgeführten Länderexamen der Schweiz gute Noten zur Geld- und Haushaltspolitik. Wichtige Fragestellungen gilt es aber noch zur Regulierung der Megabank UBS zu lösen.

Zur Story