Selbst beim kürzlich erfolgten Treffen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte unser neuer Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) wenig. EU-Botschafter Michael Matthiessen sagte danach höflich am Westschweizer Radio: Cassis befinde sich bestimmt noch in der Beobachtungsphase.
Das war bei anderen auch schon anders. Als die neugewählte Bundesrätin Michline Calmy-Rey 2003 ihr Amt aufnahm, forderte sie nach wenigen Tagen US-Aussenminister Colin Powell heraus: Sie reise nur ans WEF nach Davos, wenn Powell in ein Treffen einwillige. So kam es, und Calmy-Rey bot den USA die guten Dienste der Schweiz im Irak an.
Auch bei den letzten Von-Wattenwyl-Gesprächen mit den Bundesratsparteien beliebte der Tessiner zu schweigen. SP-Präsident Christian Levrat versuchte mehrmals, ihn zu einem persönlichen Positionsbezug zu bringen. Cassis verwies an Bundespräsidentin Doris Leuthard. «Er hat vor der Wahl allen alles versprochen, jetzt kann er nichts mehr sagen, ohne die einen oder die anderen zu verärgern», sagt Levrat.
Der Schweiger. Ausnahmen macht Cassis selten, etwa an einem Anlass mit Ex-Miss-Schweiz Christa Rigozzi. Am Abend des Tages, an dem er Juncker traf. Ganz in bester Ueli-Maurer-Manier sagte er laut «Blick»: Hier gefalle es ihm sogar besser als beim morgendlichen Empfang. Eine Aussage, die nicht überall besonders gut ankam.
Noch kann Cassis mit Milde rechnen. Als ehemaliger Gesundheitspolitiker habe er von Aussenpolitik keine Ahnung, urteilen Aussenpolitiker. Der Tessiner hört derzeit im EDA viel zu, führt unzählige Gespräche. Er habe Cassis in den letzten Wochen öfter gesehen als Burkhalter in acht Jahren, lobt einer. Eine Sitzung löst die andere ab, einige stöhnen schon. Burkhalter sah man vergleichsweise wenig, er sprach wenig mit seinen Spitzenleuten, er studierte lieber in stiller Kammer oder zu Hause in Neuenburg Rapporte und Unterlagen. So will Cassis nicht enden, er hat kürzlich einen Ukas erlassen: Berichte im Aussendepartement dürfen nicht mehr länger sein als 50 Seiten.
Cassis hat die Erwartungen selbst hochgeschraubt. Er werde beim Rahmenabkommen mit der EU den «Reset-Knopf» drücken, versprach er vorab der Rechten im Parlament, die ihn zum Bundesrat wählte. Sollte heissen: Es gibt keine fremden Richter. Die Schweiz macht keine Kratzfüsse mehr vor der EU. Die Ironie des Schicksals hat den neuen Aussenminister allerdings schnell eingeholt: Eine seiner ersten Amtshandlungen war, dem Bundesrat Antrag auf Zahlung der EU-Kohäsionsmilliarde zu stellen. Am Montag in der Fragestunde des Nationalrats verteidigte sich Cassis: Die Schweiz habe ein Interesse daran, dass sich alle Regionen Europas wirtschaftlich entwickelten. Und es koste ja bloss Fr. 1.25 pro Einwohner und Monat, sagte Cassis.
Dass Cassis sich Fragen stellen musste, hatte er übrigens Bundeskanzler Walter Thurnherr (CVP) zu verdanken. Die Bundeskanzlei legt die Reihenfolge fest, in der Bundesräte zur Fragestunde antreten. Cassis kam ganz am Anfang.
Zum «Reset-Knopf» sagte Cassis am Rand der Debatte auch noch: «Der Bundesrat macht bis Ende Januar eine Auslegeordnung.» Reset heisst also jetzt Auslegeordnung, und am Zug ist der Bundesrat. Geprüft werde auch der Efta-Gerichtshof. Statt EU-Gerichtshof.
Denn das mit dem Reset-Knopf ist verzwackter, als sich Cassis gedacht haben wird. Ein Diplomat sagt: «Reset heisst ja, man macht etwas Neues. Die Frage ist nur, was: Efta? Ad-hoc-Gerichtsbarkeit? Oder macht man gar nichts?» Für EDA-Leute ist Letzteres keine Option, aber der SVP, die Cassis zur Wahl verholfen hat, wäre das die liebste Lösung.
Mit der EU-Marschrichtung gekoppelt ist das Schicksal der Staatssekretärin Pascale Baeriswyl. Beobachtern scheint klar: Wenn Cassis und mit ihm der Bundesrat das EU-Rahmenabkommen aufgeben, ist die Bannerträgerin der bisherigen Politik nicht mehr die richtige Person. Aber der Neue und die selbstbewusste Basler SP-Frau kutschieren nicht schlecht zusammen, und so könnte der Ausweg sein: Cassis kreiert ein Staatssekretariat für Europafragen und besetzt es mit einer neuen Person. Baeriswyl wäre dann noch für die Rest-Welt zuständig. Aber umgekehrt, sagt einer: Ein EU-Staatssekretariat wäre ein Bekenntnis zu einer aktiven EU-Politik.
Es ist verzwickt. In EDA und Rest- Bundeshaus fragen sich derzeit viele: Wohin will Cassis? «Er hat eine Idee, aber den Weg dahin kennt er noch nicht», glaubt einer. Cassis hat noch Zeit, den Weg zu finden. Noch 65 Tage.