Dem britischen Premierminister David Cameron droht diese Woche seine schlimmste aussenpolitische Niederlage: Gegen seinen erbitterten Widerstand werden die EU-Staatsoberhäupter mit grösster Wahrscheinlichkeit Jean-Claude Juncker zum neuen Kommissionspräsidenten wählen. Für Europa ist dies ein entscheidender Moment, der auch Auswirkungen auf die Schweiz haben dürfte. Aber der Reihe nach:
Jean-Claude Juncker, ehemaliger Premierminister von Luxemburg, verkörpert die alte Garde der EU-Politik. Er gilt als Befürworter eines stärkeren Zusammenschlusses der EU und ist damit automatisch das Feindbild der Briten. Auf der Insel ist die Skepsis gegenüber Brüssel nach wie vor sehr gross, nicht zuletzt, weil die EU nach wie vor als deutsch-französisches Projekt gilt.
Die äusserst aggressive britische Boulevardpresse führt seit Wochen eine üble Hetzkampagne gegen Juncker. Sie wirft ihm alles an den Kopf, was ihr in die Hände fällt, von mangelndem Humor bis hin zu übermässigem Alkoholkonsum.
Cameron wird auch politisch unter Druck gesetzt. Die Hinterbänkler seiner eigenen Partei, die Konservativen, wollen längst weg von Brüssel. Sie haben mit dem klaren Sieg der Europa-Hasser-Partei UKIP bei den Wahlen vom 25. Mai noch mehr Wind unter die Flügel erhalten. Die britische Wirtschaft hingegen ist entsetzt. Europa ist ihr wichtigster Handelspartner, der Finanzplatz London würde ohne EU rasch und massiv an Bedeutung verlieren.
Woran erinnert uns das? Genau, an die Schweiz: Auch hier hetzen Blocher & Co. zum Entsetzen der Wirtschaft immer stärker gegen den wichtigsten Handelspartner EU und sind dabei offensichtlich auch bereit, auch grosse wirtschaftliche Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. Oder sie wissen schlicht nicht, was sie tun. So genau lässt sich dies nicht unterscheiden.
Aber, zurück zu den Briten. Cameron hat mit einem eh schon lausigen Blatt miserabel gepokert. «Seine Europapolitik ist ein Debakel», jammert der «Economist», «und das ist ein Ausdruck einer generell verfehlten Aussenpolitik.» Tatsächlich hat der Premierminister wenig strategisches Denken an den Tag gelegt und Flop an Flop gereiht. Nach seiner Wahl hat er die Tory-Abgeordneten im EU-Parlament aus der konservativen Fraktion abgezogen. Erreicht hat er damit gar nichts, ausser dass Angela Merkel nachhaltig verärgert wurde.
Danach hat Cameron den Briten versprochen, bei einer Wiederwahl spätestens im Jahre 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU durchzuführen. Was als Befreiungsschlag gegen die UKIP gedacht war, erwies sich bald als Falle. Cameron hatte damit gerechnet, dass die deutsche Bundeskanzlerin zu Konzessionen bereit sein werde und ihm Sonderwünsche zugestehen würde. Merkel liess ihn kühl im Regen stehen, Cameron steht mit leeren Händen da.
In Brüssel ist der britische Premier zum ultimativen Aussenseiter geworden, der allen auf den Keks geht. Deshalb setzt er jetzt bei der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten alles auf eine Karte und hofft, mit der Verhinderung von Junker sein Gesicht wahren zu können.
Seine Chancen sind sehr gering, denn seine geplanten Partner Schweden und Holland haben sich von ihm abgewandt, Italien und Holland scheinen einen Deal mit Merkel abgeschlossen zu haben, und die Kanzlerin hat die Nase voll vom Geschrei des britischen Boulevard. Sie drängt auf eine rasche Lösung, und diese Lösung heisst Junker.
Cameron riskiert nun, dass sich in seiner Amtszeit die geopolitische Lage seines Landes grundsätzlich verändern wird. Aus Great Britain wird Little England. Nicht nur das Verhältnis zum alten Kontinent ist verkachelt, auf der Insel selbst droht Ungemach.
Im September stimmen die Schotten darüber ab, ob sie die rund 350 Jahre alte Ehe mit den Engländern auflösen und sich selbständig machen sollen. Die Umfragen stellen ein knappes Resultat der Volksabstimmung in Aussicht. Sollten sich die Schotten tatsächlich abspalten, wäre England wieder da, wo es im Mittelalter war. Aus der ehemaligen Weltmacht wäre wieder ein unbedeutender Provinzstaat geworden.
In Camerons Scheitern liegt eine Lektion für die Schweiz: Die EU fühlt sich nach der schwersten Krise wieder gefestigt und scheint definitiv keine Lust auf Sonderwünsche zu haben. Die öffentliche Ohrfeige an den britischen Premier ist ein deutliches Signal, dass auch der vermeintliche Sonderstatus der Schweiz nicht länger respektiert wird.
Zudem sollten wir dies langsam selbst begriffen haben. Auch die Schweiz hat mit ihren Sonderwünschen Flop an Flop gereiht: Der verschmähte EWR wurde später mit den bilateralen Verträgen umgesetzt – nur schlechter und teurer. Dem Luftfahrtabkommen droht das gleiche Schicksal, nur noch viel ausgeprägter; und die Wahrscheinlichkeit, dass wir bezüglich Personenfreizügigkeit in Brüssel Zugeständnisse erhalten werden, tendiert gegen null. Zeit also, dass wir lernen, in der Wirklichkeit zu leben.