«Als Vater starb, hatte er 80 Franken auf seinem Konto», sagt Katja Früh und es zieht sie zum Ausgang, zu ihrer Zigarette, hinaus in den Zürcher Kreis 4. Wir sind in der Sport Bar und ungefähr hier, an der Ecke zur Langstrasse, stand 1957 die schöne, schwangere, junge Italienerin in «Bäckerei Zürrer» an einem Stand und verkaufte Kitschporzellan. In einem Film von Kurt Früh also. Von Katja Frühs Vater. In dessen Filmen die Langstrasse eine Art Lebensader ist. Die lange Strasse der Halbwelt und der Halbschweiz. Das Milieu und die Migranten. Damals wie heute.
Als blutjunge Frau zog Katja Früh einst vom dreiviertel-vornehmen Römerhof in die Sihlhallenstrasse im Kreis 4, neben den Denner. Das Langstrassenquartier war schon damals, um 1970, das coolste Quartier der Schweiz und billig dazu – und dabei war die Langstrasse in Katja Frühs Kindheit eher eine Schmerzstrasse gewesen. «Ich war nicht froh, wenn ich wusste, dass mein Vater dort war. Das hatte immer mit Alkohol zu tun.» In der Langstrasse verkehrte der Vater mit den Hells Angels, mit denen er befreundet war, dort lebte er seine viel zu grosse Faszination für Prostituierte aus, dort stürzte er immer wieder ab.
Über ein paar Umwege ist Katja Früh, die berühmte Katja Früh, die Dramatikerin, die beste Soap- und Serien-Kreateurin, die das Schweizer Fernsehen jemals hatte, die Grossmeisterin hinter «Lüthi und Blanc» und «Tag und Nacht», wieder in den Kreis 4 gezogen, weil er «genuiner» sei als jeder andere Kreis in der Stadt Zürich. Sie wohnt jetzt direkt bei der Langstrassen-Unterführung an den Geleisen, «im Parterre links» – auch dies ist ein Kurt-Früh-Film-Titel. Früher stand dort die «Räuberhöhle», wo die drei Clochards in «Hinter den sieben Gleisen» immer ihr Geld verputzten.
Hat sie ein schlechtes Gewissen, Teil der Kreis-4-Gentrifizierung zu sein? «Schon ein wenig. Aber dann sag ich mir immer: Besser ich wohn da als noch schlimmere Leute. Aber klar, ich sollte den Mund nicht allzu weit aufreissen. Und ich habe Angst, dass die neue Europaallee immer weiter in den Kreis 4 hinein dringt und ihm das Lebendige nimmt.»
Trägt sie eigentlich schwer am Erbe des beliebtesten Schweizer Filmemachers? «Nein, ich hab ja gar nichts geerbt», lacht sie, «es war ja einfach nichts mehr da.» Die Mutter hatte einmal in einem Verzweiflungsakt die Rechte an den Filmen «Polizischt Wäckerli» (1955), «Hinter den sieben Gleisen» (1959), «Der 42. Himmel» (1962) und so weiter für 9000 Franken verkauft. Damals, in den 70ern, als Kurt Früh als Grossvaterkino galt und sich alle sicher waren, dass seine Filme nie wieder im Kino laufen würden. «Bloss beim ‹Fall› haben sie mich gefragt, da hab ich die Rechte noch.»
«Sie» ist das Kino Xenix, das jetzt sein Openair-Programm dem Dialektfilm widmet, und «Der Fall» (1972) ist dieser grossartige letzte Film von Kurt Früh. Noch schwärzer als sein «Dällebach Kari» (1971), der ja schon mit einem Selbstmord endet. Im «Fall» gibt es einen Doppel(sebst)mord, eine dem Teufel vom Karren gefallene Minderjährige lässt sich da nämlich von einem älteren Polizeichef aushalten, und als eine Abtreibung ansteht, da bringt der Vater (Jörg Schneider) sich und die Mutter um. In einem Hochhaus. In Zürich.
Und dieses Zürich ist eine Deprostadt sondergleichen, Nachtlokale reihen sich an Baustellen, die Hells Angels treffen auf Radikalchristen. Walo Lüönd, der einen alkoholsüchtigen Ermittler spielt und sich in die junge Delinquentin verliebt, wird von ihrer Gang entsetzlich verprügelt, einer alten Prostituierten wird am Rand des bei Früh unvermeidlichen Sechstagerennens die Perücke vom Kopf gerissen.
«Der Fall» ist überhaupt der Film, in dem Kurt Früh Zürich die Maske des Idylls, das er ihm vorher zwei Jahrzehnte lang vorsichtig aufgeschminkt hatte, andauernd vom Gesicht reisst. Vorher, als es immer zu einem Happy End kam, als die italienischen Lebensmittelhändler in «Bäckerei Zürrer» und «Hinter den sieben Gleisen» herzensgut waren und von der alltäglichen Fremdenfeindlichkeit nichts zu spüren war, als die herzigen jungen Leute einander immer heirateten und die Familien heil waren oder wurden. «Das ist 50er-Jahre-Romantik», sagt Tochter Katja trocken, es sei ja nicht wirklich so idyllisch gewesen, damals in Zürich, aber ihr Vater habe «die Italiener halt einfach so wahnsinnig gern gehabt». Und die Prostituierten. Und die Clochards.
«Die Clochards in seinen Filmen, die waren sein Alter Ego, er sagte immer: Das hätte um ein Haar ich sein können.» Also zum Beispiel Zarli Carigiet, Ruedi Walter und Max Haufler, die in «Hinter den sieben Gleisen» einem geschwängerten deutschen Hausmädchen helfen, in einem alten Bahnwärterhäuschen ihr Kind zur Welt zu bringen.
Katja Früh war damals noch sehr klein, aber an die Schauspieler, die alle auch Freunde waren, erinnert sie sich gut. Ruedi Walter war immer der Samichlaus bei den Frühs, «aber er war nicht besonders intelligent, er war ziemlich reaktionär und fand alles Neue blöd, deshalb ist die Freundschaft zu meinem Vater dann auch auseinander gegangen.» Bei Zarli Carigiet waren sie oft zu Besuch, «weil er eine Vogelvolière besass. Und Haufler war ein trauriger Mensch, der hatte eine Tiefe, die den andern fehlte, er hat sich dann ja auch umgebracht.»
Heute hat Katja Früh ihr Büro am Helvetiaplatz und gerade versucht sie, Geld für ein Filmprojekt über ein anderes Stück Familiengeschichte zu finden. Und für einmal geht es um ihre Mutter. Die Mutter ist nämlich mit Hilfe von Exit aus dem Leben gegangen und darum kreist nun der neue Stoff. «Ich habe es als Gewaltakt empfunden», sagt Katja Früh, «da wird der Familie etwas angetan.» Das sei eine sehr narzisstische Handlung. Die Mutter, eine Schauspielerin, habe ihr Sterben auch ausgiebig inszeniert, habe verlangt, dass der Hunde eingeschläfert werde, weil er ohne sie nicht weiterleben könne. «Wir mussten ihr die Urne des Hundes zeigen!» In der Urne war allerdings kein Hund. Der lebt auch heute noch ganz munter weiter, und die boshafte Komik dieser Anekdote steht stellvertretend für das ganze Drehbuch.
Mutter Früh hatte sich schon in den 50ern mehr Realismus in den Filmen ihres Mannes gewünscht, «ab und zu mal einen Selbstmord statt eines Happy Ends», aber Vater Kurt hatte dafür eine Zeit lang gebraucht. Zuerst musste er mal ein paar Jahre lang an der Filmschule unterrichten. «Er hat viel von den jungen Leuten gelernt und wollte sich mit dem ‹Fall› an die Nouvelle Vague dranhängen. Leider wurde der Film erst sehr viel später goutiert, er musste viel Spott ertragen damals, man hat gesagt, jetzt versucht der Früh Kunst zu machen.»
Erinnert sie sich eigentlich noch an die Dreharbeiten? «Ja, es ging meinem Vater damals schon sehr schlecht, er hatte zwei Schlaganfälle hinter sich und war wie versteinert, wir mussten ihm sehr viel helfen beim Dreh.» Und an die eigene gekränkte Eitelkeit erinnert sie sich auch noch: ihr Vater fand nämlich ihre Schulkollegin Katrin Buschor so überirdisch schön fand, dass er ihr gleich die Hauptrolle im «Fall» gab. Dass Tochter Katja vielleicht auch mitspielen möchte, das kam ihm gar nie in den Sinn.
Auf einem Filmstill erkennt sie eine Kaffeetasse aus dem Odéon von damals. Das Odéon am Bellevue war in der wilden Zeit von 1968 und 69 der Hotspot der aufständischen Jugend. Damals war Katja Früh 15, «eigentlich viel zu jung, aber voll dabei». Dabei sein will sie auch heute noch: «Ich lebte mal am Fuss des Züribergs und hab mich dort tödlich gelangweilt, ich bin fast eingegangen. Dass wir jetzt ein Altersstöckli an Geleisen haben, ist grossartig. Es ist viel besser, im Alter mitten im Leben zu sein, als sich zurückzuziehen. Und dieses Quartier bedeutet doch einfach Geborgenheit.»
Ihr Vater mag zwar übertrieben haben mit seinem 50er-Jahre-Idyll und seiner 70er-Jahre-Depression, aber irgendwo dazwischen hat er eine Wahrheit über das heimliche Herz von Zürich eingefangen, und das liegt auch heute noch hier, in dieser Strasse, deren guter Teil bei den Geleisen beginnt unweit des Kino Xenix endet. Das Leben hier ist immer noch ein wenig wie im Film.