Gab es das schon einmal? Am Dienstag wird Bundesrat Alain Berset im Nationalrat gegen seine eigene Vorlage antreten. Gegen die Reformpläne des Bundesrates, die er bei der Präsentation der Botschaft vor mehr als zwei Jahren ein «ausgewogenes Projekt» nannte. Der Bundesrat habe seine Verantwortung wahrgenommen, sagte der Innenminister im November 2014. Und an die sehr lauten Kritiker: «Jeder muss seine Verantwortung wahrnehmen.»
Seither ist viel passiert. Die Altersreform 2020 wurde schon mehrmals für gescheitert erklärt. Bersets Plan, die erste und die zweite Säule gemeinsam zu reformieren, galt zu vielen als zu ambitiös. Berset liess sich nicht von der Kritik beirren. Denn 2004 scheiterte die isolierte Reform der AHV, 2010 die Senkung des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule, und im gleichen Jahr versenkte bereits das Parlament die 11. AHV-Revision. Deshalb präsentierte Berset eine umfassende Reform der Altersvorsorge. Er suchte den Super-Kompromiss, der für alle Lager gleich schmerzhaft ist.
Bei allen Differenzen zwischen den Räten hat Berset bereits Erstaunliches geschafft: Die gemeinsame Reform der beiden Säulen ist unbestritten. Ebenso das Ziel, das heutige Rentenniveau zu halten. Bis die bürgerlichen Parteien auf dieses Ziel einschwenkten, dauerte es genau genommen bis zum letzten Herbst, als der Nationalrat zum ersten Mal das Grossprojekt beriet.
Gestritten wird in den nächsten Wochen nur noch um die Frage, wie die Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6.8 auf 6 Prozent – das entspricht einer Renteneinbusse von 12 Prozent – kompensiert werden soll. Der Ständerat, wo SP und CVP eine Mehrheit haben, setzt vor allem auf die Erhöhung der AHV-Renten um 70 Franken. Der Nationalrat, wo FDP und SVP dominieren, will die Einbussen innerhalb der zweiten Säule wettmachen.
Kompensation in der zweiten Säule? Genau, dieses Konzept schlug einst auch der Bundesrat vor. Wegen der tieferen Verzinsung sollen die Arbeitnehmenden mehr Altersguthaben ansparen, beschied Berset 2014. Die Stichworte dazu sind Abschaffung des Koordinationsabzugs sowie Anpassung der Sparbeiträge in der zweiten Säule – im Fachjargon Altersgutschriften. Mit diesen zwei Massnahmen sollten den teilzeitarbeitenden Frauen und den älteren Arbeitnehmern geholfen werden. Den Frauen, weil sie einen höheren Lohn versichern können. Den älteren Arbeitnehmern, weil die Altersgutschriften ab 45 Jahren nicht mehr steigen sollen – sie für die Unternehmen also günstiger werden. Dazu wollte Berset Frühpensionierungen für Leute mit langem Erwerbsleben und niedrigem Einkommen erleichtern – vorwiegend Frauen also. Alle drei Elemente schlägt nun die vorberatende Kommission des Nationalrates vor. Sie ist nach langem Zaudern auf die Pläne des Bundesrates eingeschwenkt. Gewiss, es gibt auch zwei Differenzen, die Berset im Plenum wohl betonen wird. Die gewichtigere: Der Bundesrat wollte die Mehrwertsteuer stärker erhöhen, als es die vorberatende Kommission des Nationalrats vorschlägt.
Parlamentarier sind sich einig: «Wir sind jetzt mehr oder weniger bei der Bundesratsvorlage. Von einer rechtsbürgerlichen Vorlage zu sprechen, entbehrt jeglicher Grundlage», sagt Kathrin Bertschy (GLP/BE). Das Problem der Bürgerlichen ist: Alain Berset hat sich längst von der eigenen Vorlage verabschiedet. Er unterstützt die Ständeratslösung. Bertschy hat mit Blick auf die Geschichte der Reform ein gewisses Verständnis dafür. Die Grünliberalen waren lange die einzige Partei, welche Bersets Pläne stützten, die Bürgerlichen wollten davon nichts wissen. Nachdem sich in der ersten Lesung beide Räte gegen das Bundesratsmodell ausgesprochen hatten, verzichtete Berset darauf, es weiter zu verteidigen: «Es lohnt sich nicht, alleine in der Wüste zu rufen», sagte der Innenminister im Herbst. Davon ist er nicht mehr abgerückt. In der Kommission setzte er sich für die Ständeratslösung ein. Was seine Motivation ist, darüber wird spekuliert. Die St.Galler Ständerätin Karin Keller-Sutter sagt: «Berset bekämpft seine eigenen Vorschläge und folgt der Parteipolitik der SP und der Gewerkschaften.»
Bertschy erwartet von Berset, dass er den Lerneffekt der Bürgerlichen anerkennt und Hand bietet für einen Kompromiss. Denn SVP und FDP haben sich bewegt. Isabelle Moret (FDP/VD) bezeichnet sich selbst als moderate Freisinnige. Sie sei glücklich über die Konzessionen der Wirtschaft und ihrer Partei. Sie meint damit die soziale Abfederung für Frühpensionierungen und die Abschaffung des Koordinationsabzuges. Dagegen hatte sich wegen der Kosten vor allem der Gewerbeverband stark gewehrt. Moret sagt: «Mitte-Rechts hat noch nie Hand geboten für eine so soziale Lösung.» Von Berset ist sie enttäuscht. Kommen die 70 Franken durch, wird die Waadtländerin das Referendum unterstützen. «Es kann nicht sein, dass eine Migros-Kassiererin ein Jahr länger arbeitet, um die höhere Rente für vermögende Herren zu finanzieren.»
In drei Wochen entscheidet sich, ob die Altersreform 2020 gelingt. Hinter den Kulissen wird intensiv nach einem Kompromiss gesucht. Berset setzt sein ganzes Gewicht ein, das attestieren ihm selbst seine Kritiker: Er will, dass die Reform gelingt.