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Kinder können keinen Purzelbaum mehr

Kinder können keinen Purzelbaum mehr

Unsportliche Eltern, Medienkonsum und der zunehmende Verkehr sind Faktoren, die zur «Verhäuslichung» von Kindern führen.
10.07.2016, 11:54
Sarah Serafini / schweiz am Sonntag
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Ein Artikel von Schweiz am Sonntag
Schweiz am Sonntag

Die Hälfte der Kindergartenkinder kann keinen Purzelbaum mehr schlagen. Immer mehr Kindern fehlt das Gleichgewicht, auf einem Bein zu stehen, einen Hampelmann zu machen oder einen Ball zu fangen. Das schreibt die Stiftung Pro Juventute, die sich für Kinder und Jugendliche einsetzt. Der Grund dafür sei, dass sich die Kinder zu wenig bewegen, vor allem zu wenig draussen.

Die Wissenschaft hält fest, dass Kinder und Jugendliche heutzutage tatsächlich motorisch und koordinativ wenig leistungsfähig sind. Der Sportwissenschaftler Christian Herrmann vom Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel hat kürzlich rund 300 Zürcher Kinder zu Beginn der ersten Klasse hinsichtlich ihrer motorischen Basiskompetenzen untersucht.

40 Prozent der Kinder hatten Schwierigkeiten, einen Purzelbaum zu machen, oder konnten ihn gar nicht. Viele Kinder hatten auch Probleme zu springen, über einen Balken zu balancieren und einen Ball zu prellen. Am meisten Mühe bereitete den Kindern das gezielte Werfen.

Urs Eiholzer, Leiter des Pädiatrisch-Endokrinologischen Zentrums Zürich, sagt: «Wenn sich die Eltern viel bewegen, dann bewegt sich auch das Kind viel.» Die technologische Innovation ermögliche, dass man sich fast nicht mehr zu bewegen brauche. «Wer sich noch bewegt, der tut das ganz bewusst, um schlank und gesund zu sein.»

Verhäuslichung und Versportlichung

Die Kinder verbringen ihre Freizeit heute vermehrt im Haus, sagt Andreas Krebs, Bewegungs- und Sportwissenschaftler.

Zum Beispiel vor dem Bildschirm. Laut der aktuellen Studie der Mediennutzung von Kindern haben letztes Jahr die Sechs- bis Siebenjährigen täglich rund 40 bis 50 Minuten fern geschaut. Ausserdem wachse der Verkehr stark, und die Gefahr draussen werde grösser oder zumindest die Wahrnehmung einer Gefahr, so Krebs.

Gleichzeitig mit dieser «Verhäuslichung», wie das Phänomen genannt wird, nehme jedoch auch die «Versportlichung» der Kinder zu. «Sportklubs boomen. Heute gehen die Kinder ins Frühschwimmen, ins Frühleichtathletik oder ins Frühtennis.»

Schere geht auseinander

Wie gehen diese Fakten zusammen mit der Tatsache, dass die Kinder im Allgemeinen motorisch und koordinativ immer schlechtere Leistungen erbringen? Der Sportwissenschaftler Christian Herrmann sagt: «Es ist die Schere, die immer weiter auseinandergeht.» Es gebe immer mehr äusserst aktive Kinder, aus aktiven Familien, und immer mehr passive Kinder, vor allem aus sozial benachteiligten Familien.

Gut zu erkennen ist das Auseinanderklaffen bei den aktuellen Zahlen der Gewichtsdaten: Kinder von Eltern ohne Lehrabschluss sind drei- bis viermal so oft übergewichtig wie Kinder von Eltern mit einem höheren Schulabschluss. Bei Kindergartenkindern sind 10 Prozent der Schweizer übergewichtig. Bei den Ausländern liegt der Anteil bei 16 Prozent. Alles in allem jedoch ist die Zahl der übergewichtigen Kinder schweizweit gesunken.

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20 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gähn on the rocks änd röll
10.07.2016 16:46registriert Februar 2016
Es hängt auch damit zusammen, dass Kinder heute viel zu "behütet" aufwachsen. Wenn die Eltern ihre Sprösslinge aus Angst vor dem Verkehr, dem "bösen Mann", usw., mit dem Auto zur Schule bringen oder sie aus Angst nicht mehr klettern lassen, wie und wo sollen denn diese Kinder lernen, sich zu bewegen, sich zu behaupten?
Aber im Worldwideweb dürfen Kinder sich tummeln, ohne Aufsicht...
Hat stark mit der Bequemlichkeit der Eltern zu tun.
Dies ist alles sehr bedenklich.
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kliby
10.07.2016 13:59registriert September 2015
Bewegung stört eh. Viel lieber haben die Schulen in unserer Gesellschaft ruhige stillsitzende Mädchen, die können effizient und leicht betreut werden. Wer braucht schon purzelbaumschlagende Jungs.
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ket4mon
10.07.2016 21:34registriert März 2014
Blaue Flecken und die ein oder andere Schnittwunde, Verbrennungen usw gehören meiner Meinung nach zum Kind sein dazu.. Ohne wird es schwierig, eine Gefahr abzuschätzen und zu entscheiden.. Etwas Naturverbundenheit kann auch nicht schaden, zumindest das Wissen, woher die Milch eigentlich kommt (es scheint so, als haben viele keine Ahnung).. Man kann draussen so viel erleben und einfach mal sein, ohne den Alltagstress im Nacken zu haben..
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