Wenn Bundesrat Alain Berset im Herbst die Prämien fürs nächste Jahr bekannt gibt, geht die Klage wieder los: Das Gesundheitssystem in der Schweiz ist zu teuer! Der Bundesrat wird sagen, dass ein Grossteil des Kostenschubs auf die Alterung der Gesellschaft und den technologischen Fortschritt zurückzuführen sei. Übersetzt heisst das: Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Schweizerinnen und Schweizer in ihrem Leben ein neues Hüftgelenk erhalten oder das Knie operieren müssen. Zudem können neue Therapien die Lebensqualität massiv erhöhen, doch kosten sie eben auch sehr viel Geld.
Müssen wir uns also mit den steigenden Kosten abfinden? Wenn wir bei der Qualität keine Abstriche machen wollen, werden wir in Zukunft sicher nicht weniger für unsere Gesundheit ausgeben. So gehört die Schweiz nicht nur in der Qualität zu den Spitzenreitern, sondern auch bei den Kosten. Gemessen am Bruttoinlandprodukt belegt unser Land nach den USA den zweiten Rang.
So wird es auch nächstes Jahr keine Entlastung geben. Laut dem Krankenkassenverband Santésuisse stiegen die Kosten in den ersten drei Monaten im Vergleich zum Vorjahr um 5,6 Prozent. Das verheisst auch für die Prämien nichts Gutes, da man davon ausgeht, dass diese analog zu den Kosten wachsen.
Einsparpotenzial gäbe es zuhauf, zumal das Schweizer Gesundheitswesen mit zahlreichen Fehlanreizen und ineffizienten Systemen gespickt ist. Die «Nordwestschweiz» hat die wichtigsten Baustellen zusammengestellt und zeigt gleichzeitig die zentralen Probleme und die verschiedenen Lösungsansätze auf.
Seit Jahren schon streitet die Ärzteschaft mit den Krankenkassen über eine umfassende Revision des Ärztetarifs Tarmed. Dieser umfasst ganze 4600 Positionen, anhand derer die Ärzte ihre Leistungen mit den Krankenkassen abrechnen. Das erbitterte Feilschen um einen Kompromiss scheiterte letztmals 2016.
Inzwischen hat Gesundheitsminister Alain Berset die Geduld verloren und selber einen Vorschlag ausgearbeitet, mit dem der Tarmed angepasst werden soll. Berset verspricht sich mit den Änderungen jährliche Einsparungen von 700 Millionen Franken.
Mit der Anpassung soll der medizinische Fortschritt abgebildet und Fehlanreize eliminiert werden. Obwohl die Ärzte mit diesem generellen Ansinnen einverstanden sind, kam es im Rahmen der Vernehmlassung zu einem Aufschrei. Diverse Fachrichtungen sehen sich einseitig benachteiligt und machen teils Existenzängste geltend.
Zu den schärfsten Kritikern zählen Psychiater, Radiologen und Hautärzte. Letztere rechnen mit Einbussen von bis zu 30 Prozent, was von den Krankenkassen jedoch bestritten wird. Die Psychologen und Psychiater fürchten ebenfalls, dass ihr vergleichsweise schon geringer Lohn noch weiter sinkt. Damit werde der Beruf noch weniger attraktiv, obwohl schon ein Nachwuchsproblem bestehe, sagen Psychiater. Es drohten Wartezeiten, wie man sie in Deutschland kenne. Dort müssen sich Patienten über 20 Wochen für einen Termin gedulden.
Wie der Bundesrat auf die Kritik reagieren wird, ist noch nicht bekannt. Bis Mitte Juni dauerte die Vernehmlassung. Erklärtes Ziel ist, dass der neue Tarif Anfang nächstes Jahr in Kraft tritt. Der Bundesrat wird also in den nächsten Monaten den definitiven Tarif verabschieden.
Als Nächstes dürfte eine generelle Überarbeitung des Tarmed anstehen. Künftig sollen Ärzte vermehrt über Pauschalen statt über einzelne Tarife abrechnen. Der Krankenkassenverband Santésuisse wollte den Bundesrat zusammen mit den Chirurgen dazu bewegen, dies bereits bei der laufenden Revision zu tun, kam mit dem Ansinnen aber nicht durch. Angesichts des Gezerres beim Tarmed dürfte dies jedoch nicht allzu rasch umgesetzt werden.
Der medizinische Fortschritt macht es möglich, dass viele Eingriffe so durchgeführt werden können, dass der Patient am Morgen eintritt, behandelt wird und am Abend wieder nach Hause gehen kann.
Die ambulante Behandlung ist meist günstiger und angenehmer für den Patienten. Nur: Im internationalen Vergleich hinkt die Schweiz diesbezüglich anderen Staaten hinterher. Die Beratungsfirma PWC schätzt, dass über eine Milliarde Franken pro Jahr gespart werden könnte, wenn in hiesigen Spitälern mehr ambulant behandelt würde.
Was also spricht dagegen? Fehlanreize bei der Finanzierung: Ambulante Behandlungen werden zu 100 Prozent über die Krankenkassen abgerechnet. Die Versicherer wehren sich gegen eine Verschiebung, weil die Kantone stationäre Leistungen zu 55 Prozent mittragen.
Die Versicherer fahren also mit dem heutigen System meist günstiger, weil sie nur die restlichen 45 Prozent aufwenden müssen. Kurz: Eine weitere Verschiebung weg von stationären hin zu ambulanten Leistungen würde die Prämienzahler teuer zu stehen kommen. Nicht nur die Versicherer verlangen deshalb eine einheitliche Finanzierung. Sie erhalten Unterstützung von den Ärzten, Spitälern, von der Patientenstiftung und der Pharma.
Die Kantone wehren sich mit Vehemenz dagegen. Sie wollen keine Kompetenzen abgeben und warnen davor, die Krankenkassen derart zu bemächtigen, dass sie über die Finanzierung aller Gesundheitsleistungen verfügen können. Stattdessen haben einzelne Kantone Listen eingeführt, die bestimmen, welche Operationen nur noch ambulant durchgeführt werden dürfen – ebenfalls mit dem Ziel, Kosten zu sparen.
Über diese Listen ärgern sich wiederum die Ärzte. «Ob ein Eingriff ambulant oder stationär stattfinden soll, muss ein Arzt beurteilen und darf kein amtlicher Entscheid sein», sagte Urs Stoffel, Vorstand des Ärzteverbands FMH, unlängst an einer Medienkonferenz. Stoffel verwies auf ein weiteres Problem:
Trotz Widerstand der Kantone bastelt eine Subkommission des Nationalrats seit Jahren an einer einheitlichen Finanzierung. Wie genau das Konstrukt am Ende aussehen soll, ist noch offen. Streit ist aber programmiert. So sind nicht nur die Kantone skeptisch, ob den Versicherern die Kontrolle über die Finanzen überlassen werden soll. Auch Patientenschützer sind dagegen. Eine mehrheitsfähige Lösung liegt noch in weiter Ferne.
Mindestens 13 Prozent aller Ausgaben im Gesundheitswesen werden für Medikamente ausgegeben. Die Zahl dürfte jedoch deutlich höher liegen. Da die Spitalaufenthalte mit Fallpauschalen abgerechnet werden, ist nicht bekannt, wie viel Geld hier zusätzlich für Pillen und Ampullen fliesst.
Die vom Bund festgelegten Medikamentenpreise wurden letztmals 2014 angepasst. Mit ein Grund für die Pause war ein Bundesgerichtsurteil, dass es dem zuständigen Bundesamt für Gesundheit (BAG) untersagte, sich bei der Berechnung lediglich auf die ausländischen Preise abzustützen. Inzwischen wurde die Verordnung angepasst, damit auch die Wirkung eines Arzneimittels im Vergleich zu anderen wieder stärker berücksichtigt wird.
Nun werden in diesem Jahr wie üblich ein Drittel aller Medikamentenpreise angepasst. Das BAG rechnet mit Einsparungen von rund 180 Millionen Franken ab dem nächsten Jahr. Obwohl nur ein Drittel überprüft wird, hinke das Bundesamt mit seinem Zeitplan hinterher, sagt ein Pharmamanager. Das BAG ist vorsichtig optimistisch:
Die Medikamentenpreise sind schon seit Jahren ein Zankapfel. Krankenkassen, Konsumentenschützer und der Preisüberwacher orten ein grosses Sparpotenzial, würden die Preise anhand aktueller Wechselkurse angepasst. Gleichzeitig verlangen sie, dass jedes Jahr sämtliche Medikamentenpreise überprüft werden und nicht wie heute nur ein Drittel.
Schliesslich fordern sie ein Einspracherecht, sollten sie mit einem vom Bund festgelegten Preis nicht einverstanden sein. Bislang sind all diese Forderungen wirkungslos verpufft.
Mit der Pharmaindustrie steht ihr ein mächtiger Gegner gegenüber, der es versteht, in Bundesbern für seine Interessen gezielt zu lobbyieren. Die Branche moniert, die Medikamentenpreise könnten mit dem heutigen System nur sinken, eine Erhöhung – etwa wechselkursbedingt – sei nicht möglich. Mittlerweile kommen Forderungen auf, das System radikal umzubauen. Doch ob diese es je ins Parlament schaffen, ist ebenso unklar wie die Frage, wann esdamit so weit sein könnte.
Braucht die Schweiz 36 175 Ärzte und 290 Spitäler? Diese Frage lässt sich nicht schlüssig beantworten. Haus- und Kinderärzte gibt es je länger, je seltener, hingegen konzentrieren sich einzelne Fachspezialisten wie Psychiater in den Städten. Weil bei medizinischen Leistungen das Angebot die Nachfrage schafft, der Arzt also dem Patienten sagt, wie oft und lange er eine Therapie braucht, versucht die Politik seit 15 Jahren, die Zulassung von Ärzten zu steuern. Bisher erfolglos.
Die Ausgaben im ambulanten Bereich wuchsen im Vergleich zu anderen Gesundheitskosten überproportional stark. Aktuell erarbeiten Bundesrat und Parlament eine neue Lösung, um die Zahl der Ärzte begrenzen zu können. Und es besteht Grund zur Hoffnung: Falls die Kantone bei der Finanzierung einlenken, würden die Leistungserbringer und das Parlament den Kantonen mehr Freiraum gewähren, die Zahl der Ärzte im Kanton zu steuern.
Ob dies zum Erfolg führt, ist unklar. Denn bereits heute besitzen die Kantone bei der Spitalplanung ein Instrument, um das Angebot und die Zahl der Spitäler zu steuern. Bloss nutzen sie es nicht, um Kosten einzudämmen. Im Gegenteil: Die Spitäler bauen ihre Kapazitäten aus oder erneuern diese sogar. So schätzt die Credit Suisse in einer aktuellen Studie, dass in den nächsten 20 Jahren 16 Milliarden Franken in die Spitalinfrastruktur gepumpt werden. Versicherer gehen von deutlich höheren Zahlen aus.
Unabhängig davon, wie gross letztlich die Zahl ist, müssen nach neuem Spitalgesetz alle Investitionen aus der laufenden Spitalrechnung bezahlt werden. Sprich: Der Prämien- und Steuerzahler wird zur Kasse gebeten, zahlt nicht nur medizinische Leistungen, sondern den Ausbau.
Anstatt veraltete Strukturen ab- oder umzubauen, wird ein Spitalnetz am Leben erhalten, das viel zu engmaschig und zu teuer ist. Bestrebungen, hoch spezialisierte Medizin an ein paar wenigen Standorten zu bündeln, laufen zwar, aber sehr langsam.
Auch schauen einzelne Kantone bei der Spitalplanung neuerdings über die Kantonsgrenze hinaus, das Wallis, die Waadt oder die beiden Basel, wo die Fusion der kantonalen Spitäler erfolgreich zustande kam, aber durch die Wettbewerbskommission (Weko) verhindert werden könnte. Im Gegensatz dazu gibt es Spitäler, die aus Prestigegründen neue Spezialitäten aufbauen, wie etwa die Herzchirurgie an der Hirslandenklinik Aarau.
Dass Gesundheitsleistungen erfolgreich an wenigen Standorten konzentriert werden können, zeigt das Beispiel Dänemark: Dort sollen in Zukunft 21 Krankenhäuser die Versorgung sicherstellen. Freilich sind die geografischen und demografischen Begebenheiten nicht vergleichbar – und doch haben die Dänen dereinst 270 Spitäler weniger als die Schweizer.
Manchmal kann weniger mehr sein. Die Erkenntnis, dass dieses Prinzip gerade auch in der Medizin gilt, hat sich international längst durchgesetzt: Unnötige Behandlungen sind nicht nur teuer, sie können dem Patienten auch mehr Schaden zufügen als nützen. In der Schweiz sickert diese Erkenntnis nur langsam durch.
Vorreiter in diesem Bereich ist die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin, die 2014 erstmals eine Liste mit Behandlungen veröffentlichte, die häufig unnötig sind. 2016 folgte die zweite Liste. Dabei geht es nicht um Verbote. Der Patient soll mit dem Arzt klären, ob der Nutzen einer Behandlung tatsächlich grösser ist als das damit verbundene Risiko. Im Juni folgten zwei neue Listen für Geriatrie und Intensivmedizin, andere ziehen nach.
Der Bund überprüft seit zwei Jahren, ob einzelne medizinische Massnahmen den Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit entsprechen – darunter Kniearthroskopien und Wirbelsäuleneingriffe. 2016 kamen weitere Behandlungen dazu.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) rechnet mit einem Einsparpotenzial von rund 100 Millionen Franken pro Jahr. Erweisen sich Leistungen als nicht wirksam oder unnötig, können sie auch nicht mehr über die Grundversicherung abgerechnet werden.
Noch harziger läuft die Qualitätsstrategie, welche das Parlament vor mehr als zehn Jahren initiiert hat. Gemäss BAG sterben 2000 bis 3000 Patienten pro Jahr an Behandlungsfehlern. Studien zeigten, dass über sogenannte Checklisten nicht nur Fehler, sondern auch Komplikationen vermieden werden könnten, was wiederum die Sterblichkeitsrate senken würde.
Das Pilotprojekt «Sichere Chirurgie» war ein erster Versuch in der Schweiz, vermeidbare Fehler im Operationssaal auszumerzen. Die Checkliste stellt sicher, dass die richtige Körperseite operiert wird und keine Gegenstände im Körper des Patienten vergessen werden. Verbesserung verspricht man sich nicht nur für die Gesundheit der Patienten, sondern auch für die Kosten. Denn schlechte Leistungen sind teuer. Obwohl eine bessere Qualitätssicherung unbestritten ist, können sich Politiker nicht auf ein Vorgehen einigen. Der Ständerat schmetterte die Qualitätsstrategie des Bundesrats vor einem Jahr ab. Jetzt erarbeitet die zuständige Gesundheitskommission ein neues Projekt.
Die Digitalisierung macht auch vor dem Gesundheitswesen nicht halt. Unter dem Schlagwort «E-Health» werden zahllose Apps, tragbare Messgeräte (Wearables), elektronische Patientendossiers und vieles mehr zusammengefasst. Würden alle 250 Millionen Papierdokumente im Gesundheitswesen elektronisch übermittelt, so könnten gar 2 bis 3 Milliarden Franken an Kosten vermieden werden, rechnet die Swisscom vor.
Grosses Potenzial wird dem elektronischen Patientendossier (EPD) zugemessen. Würden dort alle Daten eines Patienten zentral gesammelt, so liessen sich zahlreiche Untersuchungen vermeiden. Heute werden gerade Röntgenbilder oft doppelt angefertigt, da das letzte gerade nicht zur Verfügung steht.
Seit April dieses Jahres ist ein Gesetz zum EPD in Kraft getreten. Demnach müssen Spitäler innerhalb von drei, Pflegeheime innerhalb von fünf Jahren das EPD einführen. Für Ärzte und ambulante Praxen ist es dagegen freiwillig, auch die Patienten werden nicht gezwungen, ein elektronisches Dossier zu führen.
Verfechter des EPD kritisieren diese Freiwilligkeit. Nur wenn auch die Ärzte mitmachen müssten, würde der Digitalisierung einen echten Schub verliehen. Auch das blosse Hin- und Herschieben von Dokumenten sei zu wenig ambitioniert. Eine Überweisung eines Patienten oder eine Anordnung an einen Physiotherapeuten soll durchweg digital ablaufen, fordern die Vorreiter des EPD.
Eine Achillesferse sind auch kantonale Insellösungen. So haben etwa die Kantone Zürich und Bern zusammengespannt und setzten dabei auf die Swisscom als Technologiepartner. Der Kanton Genf setzt derweil auf die Post.
Die beiden staatsnahen Betriebe sind die führenden Anbieter von E-Health-Lösungen in der Schweiz. Setzen die Kantone auf unterschiedliche Systeme, so besteht die Gefahr, dass diese aufgrund fehlender Schnittstellen nicht miteinander kommunizieren können. Laut dem Bund sollen erste Patienten in der zweiten Jahreshälfte 2018 ein EPD eröffnen können.
(aargauerzeitung.ch)