Schweiz
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Nach dem zweiten Weltkrieg: «Es gab nichts mehr, wir mussten fort»

Giulia Mettauer-Coronet im Alter von 25 Jahren in Triest.
Giulia Mettauer-Coronet im Alter von 25 Jahren in Triest.bild: stadtmuseum aarau

Weltkriegs-Flüchtling in der Schweiz: «Wir mussten uns komplett ausziehen»

1947 reiste die junge Giulia Mettauer-Coronet in die Schweiz und landete als Dienstmädchen – per Zufall – in Aarau.
17.10.2016, 18:4818.10.2016, 06:50
Katja Schlegel / az Aargauer Zeitung
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Da standen sie, die drei Mädchen. Die Augen gerötet vom Weinen, in der Hand den Kartonkoffer, um die Schultern die Jacke, die die Mutter aus einer gefärbten Militärdecke der Deutschen geschneidert hatte. Da waren sie also, in der neuen Heimat. Weit weg von daheim, weit weg von der Familie. Da. In Aarau. Der Zufall hatte es so gewollt.

«Wir mussten uns komplett ausziehen und wurden geduscht, die Koffer wurden mitsamt Inhalt desinfiziert.»
Giulia Mettauer-Coronet über ihre Reise in die Schweiz

Giulia Mettauer-Coronet spricht noch heute ungern über diese Reise, auch knapp 70 Jahre danach. Über Venedig, wo die Aufrufe aus den Lautsprecher schepperten – «Dienstmädchen gesucht» –, über das Büro, vor dem sich Giulia, damals 19-jährig, mit Schwester Irma und zwei Cousinen in die Schlange stellte. Über die Liste, in die sie eingetragen wurde, die Schwester wurde Zürich zugeteilt, Giulia und die beiden Cousinen Aarau. Dann die Zugfahrt, am 24. Mai 1947, das Datum wird sie nie mehr vergessen. Die Fahrt, der Albtraum in Chiasso, an der Grenze. «Wir mussten uns komplett ausziehen und wurden geduscht, die Koffer wurden mitsamt Inhalt desinfiziert. Die Schweizer hatten Angst, wir würden Krankheiten einschleppen.» Und dann die Fahrt durch die Alpen, diese Berge, einer nach dem andern, nichts als Berge. «Wir haben aus dem Fenster geschaut und nur noch geweint», sagt Giulia Mettauer und lächelt. Heute geht das, das mit dem Lächeln.

Ein Wörterbuch zur Begrüssung

Was hätten sie denn sonst anderes tun sollen? «Der Krieg war vorbei und in Italien gab es nichts mehr. Wir mussten fort.» Die Fabriken waren zerbombt, ihr Heimatdorf in der Provinz Belluno hatten die Deutschen auf ihrem Rückzug geplündert und zerstört, die Rösser und Kühe auf den Feldern geschlachtet. Den jungen Frauen riet man, nach Venedig zu gehen. «Da würden Dienstmädchen für die Schweiz gesucht, sagte man uns. Also gingen wir hin.»

Giulia Mettauer-Coronets Ausstellungsstück: Ihr Koffer.
Giulia Mettauer-Coronets Ausstellungsstück: Ihr Koffer.bild: jonas jaeggy/stadtmuseum aarau

Am Bahnhof Aarau wurden die drei Cousinen von Frau Vegezzi empfangen. Jede bekam ein Heftchen mit den wichtigsten Worten in die Hand gedrückt. Pane – Brot. Grazie – Danke. Dazu Schweizer Rezepte, für Birchermüesli, Sauerkraut und Rüeblitorte. Giulia Mettauer ruft ein gedehntes «Mamma Mia» und schlackert mit den Händen. «Wir kannten nur Polenta und Spaghetti und mussten plötzlich eine Cervelat bräteln, das war schon alles sehr ungewohnt für uns.»

Frau Vegezzi war es auch, die den italienischen Frauen jede Woche eine Stunde lang Deutsch beibrachte. «Damals, 1947, gab es nur gerade zehn Italienerinnen in Aarau», erinnert sich Giulia Mettauer. Die grosse Einwanderungswelle mit Hilfsarbeitern aus Italien würde erst Mitte der 50er Jahre ankommen. Anfeindungen oder Gehässiges habe sie nicht erlebt, sagt sie. «Die Leute waren immer anständig mit mir. Aber wir haben auch immer gespurt und zu allem Ja gesagt.»

Eine Wurst für vier Mäuler

Die drei Cousinen wurden auf drei Familien verteilt. Eine kam in einen Haushalt am Schlossplatz, eine an die Laurenzentorgasse, und Giulia Mettauer kam zu einer Familie im Zelgli. Dem Doktor war gerade die Frau gestorben, Giulia musste sich nebst Küche, Waschküche und Garten auch um die beiden schulpflichtigen Mädchen kümmern. Das alles für 70 Franken Monatslohn, wohnen konnte sie in der Mansarde unter dem Dach. Von ihrem ersten Ersparten kaufte sie sich einen neuen Koffer. Einen richtigen, keinen aus Karton, für 75 Franken. «Ein riesiger Koffer, damit viele Geschenke Platz hatten.» Sogar ein ganzes Service Teller habe sie darin ihrer Mutter nach Italien gebracht. Später investierte sie einen ganzen Monatslohn in einen dunkelroten Regenmantel.

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Nach einem Jahr wechselte Giulia Mettauer zu einer anderen wohlhabenden Aarauer Familie. Auch da verdiente sie nicht viel mehr, auch da wurde sparsam gehaushaltet. Die Herrschaften seien sehr bescheiden gewesen, erinnert sie sich. «Eine Bratwurst musste für vier Mäuler reichen.» Das hat sie nachhaltig geprägt, noch heute brauche sie nicht viel Geld, und eigenständig ist sie auch. «Ich bin nicht verwöhnt und ich mache alles selbst.»

Eines liessen sich die Cousinen nicht nehmen: den Tanzabend im «Glockenhof» am Rain, dem Restaurant gegenüber der Glockengiesserei Rüetschi. Da verdrehten sie den Schweizer Buben die Köpfe. «Wir waren eine Pracht», sagt Giulia Mettauer und strahlt. «Wir konnten gut singen und tanzen, wir waren modisch gekleidet. Das war etwas anderes als die Schweizer Mädchen.» Beim Tanzen lernte Giulia auch Ernesto kennen, den jungen Erlinsbacher, der wegen seiner Bergeller Mutter Italienisch sprach. 1955 heirateten die beiden in Italien, bei der Familie. Das ganze Dorf sei gekommen, sagt Giulia Mettauer, und habe sie bestaunt. Denn sie war die Erste aus dem Dorf, die in Weiss heiratete. Die Schwägerin, ein gefragtes Mannequin, hatte ihr dafür ein schneeweisses Kostüm geliehen.

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Das alles ist lange her. Zwei Söhne haben die beiden bekommen, heute ist Giulia sechsfache Grossmutter. Über 30 Jahre lang hat sie im Goldern-Kindergarten als Hauswartin gearbeitet, seit 60 Jahren lebt sie in der gleichen Wohnung und noch immer macht sie alles selbst. Aarau ist ihre Heimat geworden und geblieben, auch wenn das Heimweh lange gross war. Jeden Sommer besuchte sie ihre Mutter und noch heute telefoniert sie jede Woche mit ihren Schwestern. Sie sind zurückgekehrt. Giulia ist geblieben. «Warum sollte ich zurück?», fragt sie. «Ich bin hier so glücklich mit mir, meinen Buben. Und mit meinem Leben.» (aargauerzeitung.ch)

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