Eine ganz neue Eskalationsstufe. Beispiellos. Noch nie dagewesene Gewaltbereitschaft. Wer mit den beteiligten Akteuren über das jüngste Kapitel der Schweizer Fangewalt spricht, dem fliegen die Superlative nur so um die Ohren.
Die Rede ist vom Vorfall im Extrazug von Lausanne nach Zürich am vergangenen Wochenende. Auf dem Rückweg bedrohte eine Gruppe von GC-Anhängern das Zugpersonal so massiv, dass dieses auf offener Strecke die Notbremse zog und flüchtete. Selbst die Transportpolizisten und der Lokführer verliessen den Zug.
Der Vorfall befeuert die Debatte über ein hartes Durchgreifen gegen gewaltbereite Fussballfans neu. Folgende Vorschläge liegen auf dem Tisch:
Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) fordert, dass die Fussballklubs finanziell und juristisch zur Rechenschaft gezogen werden, wenn im Zug Sachschaden entsteht oder Personen angegriffen werden. «Es ist ohnmächtig, wenn die Politik und der Fussballverband einfach zuschauen, wie die Lage eskaliert», klagt SEV-Vizepräsident Manuel Avallone im Interview mit watson.
Ins gleiche Horn stösst auch SVP-Nationalrat Thomas de Courten. Vor wenigen Monaten hat der Baselbieter vom Bundesrat eine Zwischenbilanz zu den Massnahmen des Hooligan-Konkordats verlangt. Die Antwort fiel für ihn ernüchternd aus: «Man schiebt den schwarzen Peter einfach weiter», bilanziert er. Der Bund verweise auf die Kantone – und diese wiederum auf die Vereine. Auch für de Courten ist deshalb klar, dass die Fussballklubs in die Pflicht genommen werden müssen. «Sonst werden wir dem Problem der Fangewalt niemals Herr.»
Das Parlament hatte sich vor einem Jahr dagegen entschieden, die Regeln für Fantransporte zu verschärfen. Stattdessen lud Verkehrsministerin Doris Leuthard zu einem Runden Tisch, an dem Sportverbände, Fanarbeiter, Verkehrsunternehmen und Kantone gemeinsam nach Lösungen suchen sollten.
Eine Arbeitsgruppe, die daraus hervorgegangen ist, prüfe derzeit «organisatorische Massnahmen bei der Fahrpreisgestaltung, dem Rollmaterial und den Fahrplänen der Fanextrazüge», schreibt der Bundesrat in seiner Antwort auf de Courtens Vorstoss etwas kryptisch. SBB-Sprecher Stephan Wehrle bestätigt auf Anfrage von watson, die Haftungsfrage werde im Rahmen der Arbeitsgruppe diskutiert.
Auch Pierre Maudet (FDP) scheint der Geduldsfaden gerissen zu sein. In der letzten Ausgabe der «NZZ am Sonntag» plädierte der Chef der kantonalen Justizdirektoren-Konferenz dafür, «dass sich der Anstieg der Sicherheitskosten auf dem Eintrittspreis niederschlägt». Auf jedem Ticket müsse vermerkt sein, welcher Anteil ins Sicherheitsdispositiv fliesst.
«Die Leute müssen merken: Je mehr Volltrottel Radau machen, desto teurer wird der Matchbesuch. Das erhöht die soziale Kontrolle.» Es gehe nicht an, dass die Kantone die Klubs indirekt subventionieren, indem sie für die Sicherheit an den Spielen aufkommen, so der ehemalige FDP-Bundesratskandidat.
Auch SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher findet es zentral, dass sich die anderen Fans von den gewaltbereiten Personen in den eigenen Reihen distanzieren. Sie verurteilt die Übergriffe auf das SBB-Personal in aller Form. «Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft nicht einfach wegschauen, wenn so etwas passiert.»
Mit gutem Zureden allein sei es aber nicht getan. «Die Öffentlichkeit hat sich lange mit wohlklingenden Versprechen abspeisen lassen. Jetzt braucht es griffige Sanktionsmassnahmen, die auch umgesetzt werden.» Einerseits sei es an den Klubs, spürbare Sanktionen zu ergreifen. Zudem sei es richtig, dass die SBB im aktuellen Fall Strafanzeige eingereicht hat (siehe Punkt 4).
Vor knapp zwei Jahren präsentierten die Kantone und die Swiss Football League eine Reihe von Empfehlungen, die dabei helfen sollen, das Hooligan-Konkordat schweizweit einheitlich durchzusetzen. Dazu zählten unter anderem mobile Videoteams der Polizei, die die Fans auf dem Weg zum Stadion filmen.
Das Schweizerischen Polizeiinstitut (SPI) bietet diesen Frühling erstmals eine Ausbildung für solche Videoteams an. Dies in Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei Zürich, die im Kampf gegen gewaltbereite Ultras bereits seit geraumer Zeit auf das Mittel setzt.
Das Bildmaterial soll dabei helfen, Fälle von Fangewalt aufzuklären. Im Rahmen des SPI-Kurses will die Stadtpolizei ihr Know-How nun an andere Polizeikorps weitergeben. Wie gross das Interesse ist, kann die Medienstelle mit Verweis auf die laufende Anmeldefrist noch nicht sagen.
Die Massnahmen des Hooligan-Konkordats seien «probate Mittel», um erfolgreich gegen Gewalttäter im Sport vorzugehen, ist man bei der Polizeilichen Koordinationsplattform Sport überzeugt, die vor zwei Jahren ins Leben gerufen wurde. Allerdings müsse noch vermehrt in die Identifizierung der Täter investiert werden – und dafür mangle es den Klubs und Polizeikorps häufig an den personellen Ressourcen.
Bei Angriffen auf die eigenen Mitarbeiter gelte Nulltoleranz, hält SBB-Sprecher Wehrle fest. «Am Wochenende wurde eine rote Linie überschritten.» Die Bundesbahnen erstatten deshalb Anzeige gegen Unbekannt.
Das Bundesamt für Polizei erfasst Hooligan-Delikte in einer eigenen Datenbank. Im letzten halben Jahr wurden demnach 31 Angriffe, 70 Fälle von Körperverletzung, 269 Fälle von Gewalt und Drohung gegen Beamte, 81 Tätlichkeiten, 252 Verstösse gegen das Vermummungsverbot, 348 Verstösse gegen das Sprengstoffgesetz, 116 Sachbeschädigungen, 142 Fälle von Raufhandel, 16 Fälle von Nötigung, 49-mal Hausfriedensbruch und 510-mal Landfriedensbruch erfasst. Zudem hinderten Hooligans die Behörden in 60 Fällen an einer Amtshandlung.
Die Zahlen bewegten sich in den letzten Jahren jeweils in einem ähnlichen Rahmen. Pro Halbjahr werden zwischen 600 und 700 Personen mit einem Stadionverbot belegt und zwischen 400 und 550 Personen mit einem Rayonverbot. Der Grossteil der registrierten Hooligans ist männlich und zwischen 19 und 29 Jahre alt.
Für den Rest der Saison stellt die SBB den GC-Fans keine Extrazüge mehr zur Verfügung. Der Beschluss sei in Absprache mit den Fanverantwortlichen gefällt worden, so Stephan Wehrle. Nun gelte es, die Vorkommnisse der vergangenen Wochenenden zu analysieren.
Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass die Extrazüge ab nächster Saison auch für die Anhänger der Grasshoppers wieder fahren. «Wir haben grossmehrheitlich gute Erfahrungen mit dem Konzept der Fanextrazüge gemacht», so Wehrle. Er betont, die SBB wisse zwischen der «kleinen Gruppe von militanten Personen und der grossen Mehrheit der vernünftigen Fussballfans» zu unterscheiden.
Auch Gewerkschafter Avallone hält einen totalen Verzicht auf Extrazüge für die «schlechteste aller denkbaren Lösungen». Dann würden die gewaltbereiten Fans in den Regelzügen fahren und dort im schlimmsten Fall andere Kunden gefährden. Als Sanktion schlägt er stattdessen das Abhalten von Geisterspielen vor.