Mit dem Einverständnis des deutschen Oberkommandos reist im April 1917 ein sozialistischer Revolutionär im Zug durch Deutschland. Ziel: Petersburg. Diesmal handelt es sich nicht um Lenin. Eine Woche nach dem Führer der Bolschewiki ist auch der Schweizer Sozialdemokrat Robert Grimm auf dem Weg in die russische Metropole. Grimm ist damals der führende Kopf der Zimmerwalder Bewegung. Jener Minderheit der europäischen Sozialdemokraten, die sich nicht damit abfinden will, dass die meisten Genossen den Krieg ihrer Regierungen unterstützen.
Das Entsetzen darüber, dass die Arbeiter den Klassenkampf vergessen haben und sich willig «auf die Schlachtbank» führen lassen, eint Grimm und Lenin. Doch sie mögen sich nicht, weder persönlich noch politisch. Grimm und die Mehrheit der Teilnehmer der zwei internationalen Konferenzen im bernischen Zimmerwald und Kiental wollen den Weltkrieg beenden. Sicher, auch sie sind überzeugt, dass das Proletariat die Macht erobern muss. Ob dies auf demokratischem oder revolutionärem Weg geschehen soll, lassen sie aber offen. Für Lenin jedoch gibt es nur einen Weg: den sofortigen bewaffneten Aufstand und den nahtlosen Übergang vom Weltkrieg in den Bürgerkrieg.
Noch aber ist Lenin ein in Russland kaum bekannter Exilpolitiker, der nicht einmal die eigene Partei hinter sein radikales Programm geschart hat. Grimm dagegen ist international als Kopf der Kriegsgegner bekannt. In Russland, wo eben der Zar gestürzt wurde, verfolgen sie unterschiedliche Ziele. Grimm will einen Friedensschluss mit Deutschland, um die Februarrevolution zu unterstützen. Er befürchtet eine Gegenrevolution, falls der für die russische Armee bereits verlorene Krieg andauert. Auch Lenin agitiert gegen den Krieg. Dies aber, um die provisorische Regierung zu stürzen und mit seinen Bolschewiki die Macht zu ergreifen – im Alleingang.
Doch auch Grimm handelt im Alleingang – und in krasser Selbstüberschätzung. Um die Ziele der Zimmerwalder zu erreichen, bedient er sich der Geheimdiplomatie, welche er und seine internationalen Genossen doch gerade als eine der Kriegsursachen anprangern. Die Aktion wird gründlich schiefgehen – und nebenbei in der Schweiz auch den damals starken Mann im Bundesrat, den Freisinnigen Arthur Hoffmann, stürzen. Der deutschfreundliche Hoffmann und der Revolutionär Grimm lassen sich, wenn auch aus gegensätzlichen Motiven, auf ein Spiel zu zweit ein. Es ist so riskant, dass sie es vor Bundesratskollegen beziehungsweise Genossen verheimlichen.
Dass der aufstrebende Kopf der oppositionellen Sozialdemokraten mit dem deutschfreundlichen Schweizer Aussenminister Kontakt aufnimmt, um zuerst – in revolutionärer Solidarität – die Reise Lenins und anderer russischer Emigranten durch Deutschland nach Russland anzubahnen und danach seine eigene, ist nachvollziehbar – über Deutschland führt der einzig mögliche Weg. Doch Grimm und Hoffmann gehen viel weiter: Sie wollen in enger Absprache mit dem deutschen Botschafter in Bern, Gisbert von Romberg, einen Separatfrieden zwischen Deutschland und Russland ermöglichen.
Hoffmann und Grimm sollten dies später – wenig glaubwürdig – bestreiten. Das Ausmass der Geheimaktion wird erst Jahrzehnte später bekannt, als die Rapporte von Botschafter Romberg nach Berlin zugänglich werden. Grimm hat vor seiner Abreise sogar ein Gespräch mit Romberg geführt: Er wünscht ein Friedensangebot von deutscher Seite mit «Verzicht auf Annexionen und Kriegsentschädigungen», das die Friedenspartei in Russland stärkt. Die Kommunikation soll über die vermeintlich sicheren Kanäle der Schweizer Botschaft in Petersburg und via Hoffmann erfolgen.
Nach einem Zwischenaufenthalt in Stockholm erhalten Grimm und eine Gruppe von Zimmerwaldern, die nichts von seinem Plan wissen, endlich die Erlaubnis zur Einreise. Am 22. Mai 1917 sind sie in Petersburg – und werden begeistert begrüsst. Die Lage ist widersprüchlich. Die Sehnsucht nach Frieden ist gross – doch ein Separatfrieden mit Deutschland unpopulär. Grimm, der kein Russisch spricht, obschon er in erster Ehe mit einer Exilrussin verheiratet war, merkt, dass seine Möglichkeiten als Agitator begrenzt sind.
Um die sozialistischen Minister, die neu in die russische Regierung eingetreten sind, zu beeinflussen, bestellt er ein indirektes deutsches Friedensangebot. Am 26. Mai sendet er via Schweizer Botschaft ein chiffriertes Telegramm an Bundesrat Hoffmann. Die Aussichten für einen Frieden seien günstig, falls keine deutsche Offensive erfolge, rapportiert Grimm. Hoffmann solle ihn bitte über die «Kriegsziele der Regierungen» unterrichten, «da die Verhandlungen dadurch erleichtert würden».
Hoffmann schickt sein chiffriertes Antworttelegramm am 3. Juni – einem Sonntag, damit möglichst wenige seiner Mitarbeiter davon erfahren. Deutschland werde keine Offensive unternehmen, solange eine Übereinkunft mit Russland möglich sei, teilt er mit. Der Rest ist das offiziöse deutsche Friedensangebot: Deutschland strebe keine Gebietsgewinne an, versichert Hoffmann. Auch wenn angetönt wird, dass Teile Polens und des Baltikums, die vor dem Krieg zu Russland gehörten, unter einer Art Autonomie abgetrennt werden sollen.
Am 8. Juni informiert der Schweizer Botschafter in Petersburg Grimm über den Inhalt des Telegramms. Doch der kann damit nichts mehr anfangen. Schon am folgenden Tag muss Grimm dem Botschafter mitteilen, dass zwei russische Minister, mit denen er gesprochen hat, bereits wussten, dass Hoffmann ihn über die deutschen Kriegsziele informiert hatte. Um sich und Hoffmann nicht zu diskreditieren, stritt Grimm dies ab – und sollte sich mit dieser Lüge in der Folge immer tiefer in Widersprüche verstricken.
Am 16. Juni wird das Telegramm via eine Stockholmer SP-Zeitung der Weltpresse zugespielt. Unter dem Druck von Grossbritannien und Frankreich, die der Schweiz unneutrales Verhalten vorwerfen, reicht Hoffmann am 18. Juni seinen Rücktritt als Bundesrat ein.
Die chiffrierte Depesche war vermutlich via einen Portier der Schweizer Botschaft in die Hände des französischen Rüstungsministers Albert Thomas gelangt. Thomas ist einer jener Sozialisten, die den Krieg fortsetzen wollen, ein Gegner der Zimmerwalder. In Petersburg lobbyiert er, um Russland im Krieg zu halten. Der Schweizer Chiffrierschlüssel war wahrscheinlich schon zuvor geknackt worden.
Grimm wurde bereits am 15. Juni aus Russland ausgewiesen. Er hatte mit der Geheimaktion seiner Sache geschadet. Nicht zuletzt die Ausweisung des führenden Zimmerwalders Grimm macht nun den Weg frei für eine Militäroffensive des russischen Kriegsministers Kerenski. Sie endet im Desaster – und ebnet den Bolschewiki den Weg zur Macht. Grimm hat nachträglich mit seiner in Petersburg ausgesprochenen Warnung recht behalten: «Wenn der Friede nicht sehr bald geschlossen wird, wird auf diesen Strassen noch sehr viel Blut fliessen, und zwar proletarisches.»
Doch seine Genossen in der Zimmerwalder Bewegung können seine Geheimaktion nicht gutheissen, auch wenn sie ihm achtbare Motive zugestehen. International ist Robert Grimm politisch erledigt. Umso einfacher ist es für Lenin, die Zimmerwalder Bewegung, die trotz klarer Antikriegshaltung die Brücken zur sozialdemokratischen Mehrheit nie abgebrochen hatte, durch die unversöhnliche Kommunistische Internationale zu ersetzen. Die Spaltung in Kommunisten und Sozialdemokraten wird die europäische Linke schwächen und 1933 die Machtergreifung Hitlers erleichtern.