Fake News können tödlich sein. Oder zumindest fast. Am letzten Sonntag hätte eine Lügenstory aus dem Internet beinahe zu einem Blutbad geführt. Edgar Maddison Welch, ein 28-jähriger Mann aus dem US-Bundesstaat North Carolina, stürmte bewaffnet die Pizzeria «Comet Ping Pong» in Washington, in deren Keller angeblich Kinder missbraucht wurden. Er bedrohte Kunden und Angestellte mit einem Sturmgewehr und feuerte mehrere Schüsse ab.
Verletzt wurde niemand, die Polizei konnte den Schützen festnehmen. Zu seiner Tat angeregt wurde er durch eine Verschwörungstheorie, die seit Wochen unter dem Begriff Pizzagate im Internet kursiert, vor allem unter Anhängern des gewählten US-Präsidenten Donald Trump. Demnach ist besagte Pizzeria in Washington die Zentrale eines Pädophilenrings, in den niemand anders involviert sein soll als Trumps Gegenkandidatin Hillary Clinton.
Ausgangspunkt waren die gehackten E-Mails von Clintons Wahlkampfleiter John Podesta. Darin taucht der Name James Alefantis auf. Er ist Inhaber der Pizzeria, Anhänger und Geldgeber der Demokratischen Partei. Durch eine absurde Kaskade, die von der BBC rekonstruiert wurde, entstand daraus die Pizzagate-Story. Sie ist längst als Bullshit entlarvt, doch unzählige Clinton-Hasser glaubten sie bereitwillig. Alefantis und selbst die Besitzer benachbarter Geschäfte wurden bedroht, und schliesslich wollte Edgar Welch die Sache mit der Waffe «regeln».
U decide - NYPD Blows Whistle on New Hillary Emails: Money Laundering, Sex Crimes w Children, etc...MUST READ! https://t.co/O0bVJT3QDr
— General Flynn (@GenFlynn) 3. November 2016
In der aufgeheizten Stimmung kurz vor der Wahl hatte der Pizzagate-Wahn auch Donald Trumps Umfeld erreicht. Der Ex-General Michael Flynn, den der neue Präsident als Sicherheitsberater ins Weisse Haus holen will, verbreitete die Fake-Story auf Twitter mit dem Zusatz «MUST READ». Sein Sohn Michael Flynn jr. behauptete selbst nach dem Beinahe-Blutbad vom Sonntag, Pizzagate bleibe «ein Thema». Immerhin hat Trump ihn danach aus seinem Übergangsteam gefeuert.
Until #Pizzagate proven to be false, it'll remain a story. The left seems to forget #PodestaEmails and the many "coincidences" tied to it. https://t.co/8HA9y30Yfp
— Michael G Flynn🇺🇸 (@mflynnJR) 5. Dezember 2016
Pizzagate ist ein besonders krasser Fall in der Debatte um Fake News, die seit Trumps überraschendem Wahlsieg auf unzähligen Kanälen präsent ist. Die Verbreitung von gefälschten Meldungen hat sich zu einer regelrechten Industrie entwickelt. Häufig stehen nicht politische, sondern pekuniäre Motive dahinter. Mit Fake News kann man viel (Werbe-)Geld verdienen. Sie profitieren davon, dass sie über Social Media unzählige Menschen ohne viel Aufwand erreichen.
Und viele sind nur zu gerne bereit, alles zu glauben, was in ihr Weltbild passt. So erzielte die Falschmeldung, wonach Trump von Papst Franziskus zur Wahl empfohlen wurde, eine enorme Interaktion auf Facebook. Zahlreiche Experten äusserten sich besorgt, sie warnen vor einer «Filterblase» (gerade zum «Wort des Jahres» erklärt), in die sich die Menschen zurückziehen. Fake News könnten dazu führen, dass sie «nicht mehr an wahre Dinge glauben», sagte der Philosophieprofessor Michael Lynch von der Universität Connecticut der «New York Times».
Übersehen wird häufig das eigentliche Problem: Die Leichtgläubigkeit vieler Menschen, auch solcher, die intelligent sind und zu selbständigem Denken erzogen wurden. Dies zeigen auch drei Beispiele aus der Schweiz. Dabei fielen nicht etwa rechte «Dumpfbacken» auf die falschen oder fragwürdigen Meldungen herein, sondern Leute aus dem linken und linksliberalen Milieu.
Ende November tauchte im Netz unter dem Titel «Gewalt gegen Frauen» ein Text auf, der die Männer dazu aufrief, sich verstärkt für die Gleichberechtigung der Frauen zu engagieren. Verfasst wurde er anscheinend von «Tages Anzeiger»-Reporter Constantin Seibt, einem der bekanntesten Journalisten des Landes. Die Resonanz war gross, der Artikel erzielte laut dem Online-Magazin Vice allein auf Facebook mehr als 1300 Shares, Likes und Kommentare.
Viele waren begeistert und gratulierten Seibt zu dem mutigen Text. Der aber war in den Ferien und hatte keine Ahnung, wie er auf Twitter perplex mitteilte. Tatsächlich handelte es sich um eine clevere Fälschung, die nur an der URL «tagesnzeiger.ch» zu erkennen war. Selbst die Links führten auf die echte Tagi-Website. Schliesslich enttarnten sich die beiden Verfasser, es handelte sich um die Basler Genderforscherin Franziska Schutzbach und den Netzaktivisten Dimitri Rougy.
Zwei Gin Tonics später: Klasse Aktion, @f_schutzbach, @DimitriRougy, thx für unverdiente Ehre. Well done!
— Constantin Seibt (@ConstSeibt) 30. November 2016
In einer Stellungnahme zeigte sich Rougy überrascht, «dass der Fake nicht früher aufflog». Er rechtfertigte die Fälschung, zeigte sich aber auch reuig gegenüber jenen, die sich hintergangen fühlen. Es handle sich um eine Aktion «in einem juristischen Graubereich», räumte er ein. Tatsächlich hätte eine Klage wohl gute Aussichten. Allerdings will Tamedia die Angelegenheit laut persoenlich.com auf sich beruhen lassen, und Constantin Seibt reagierte mit Humor.
Letztlich wurde Seibt aber ein Opfer von Identitätsdiebstahl. Gleiches widerfuhr auch dem Aargauer SVP-Nationalrat und Asyl-Hardliner Andreas Glarner mit einem gefälschten Facebook-Posting, in dem der notorische Provokateur scheinbar einen Schiessbefehl gegen Flüchtlinge unterstützte. Der Screenshot des Eintrags wurde auf Facebook und Twitter eifrig geteilt, auch von Journalisten, verbunden mit Forderungen wie «Glarner muss weg!».
Die Reaktionen waren auf den ersten Blick verständlich, schliesslich ist Andreas Glarner einschlägig vorbelastet. Doch der echte Glarner war nach eigenen Angaben seit zwei Wochen auf Facebook gesperrt. Recherchen der «Schweiz am Sonntag» ergaben, dass der Fake von der Facebook-Seite einer gewissen Mia Pfister ausging. Der Name ist erfunden, das Profilfoto wurde aus dem Netz geklaut. Die wahren Urheber bleiben unbekannt.
Sowohl bei Seibt wie bei Glarner sind die leichtgläubigen Reaktionen zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Man traut beiden zu, solche Dinge zu schreiben, und die Fälschungen sind gut gemacht. Schwerwiegender ist der aktuellste Fall, bei dem es sich genau genommen nicht um Fake News handelt, sondern um einen Artikel aus dem «Magazin» vom letzten Samstag.
Die beiden Verfasser beschreiben darin die vermeintlich revolutionäre Methode eines Psychologen, mit der das Verhalten der Menschen auf Facebook minutiös analysiert werden könne. Eine Firma namens Cambridge Analytica habe sie im US-Wahlkampf angewendet und damit Donald Trump «mit zum Sieg» verholfen. Die Methode wird im Artikel als «Bombe» bezeichnet, und genauso schlug er ein. Bis heute wurde er rund eine Million Mal (!) geteilt.
Die Reaktionen im deutschen Sprachraum waren teilweise hysterisch, verbunden mit Aufforderungen wie «unbedingt lesen!». Endlich hatte jemand das Geheimnis von Donald Trumps Erfolg enthüllt! Eine mysteriöse Firma, in deren Vorstand erst noch Trumps rechtsradikaler Oberfinsterling Steve Bannon sitzt, soll es geschafft haben, die Wähler so zu manipulieren, dass sie den Republikaner ins Weisse Haus beförderten. Was für ein Scoop!
Wer den Text mit einem halbwegs kühlen Kopf las, hatte rasch ein ungutes Gefühl. Keine einzige unabhängige Stimme kam zu Wort, die die Wirksamkeit der Methode kritisch beurteilt hätte. Die Gegenreaktionen liessen nicht auf sich warten, und sie waren heftig. Zahlreiche Fachleute, darunter der bekannte Netzaktivist Sascha Lobo, zerpflückten die vermeintliche Wunderwaffe nach Strich und Faden. Der Medien-Monitor hat die wichtigsten Artikel aufgelistet.
Nicht besser wird der Text durch die marktschreierische Art, mit den ihn das «Magazin» verkauft hat. «Die unheimliche Macht der Firma Cambridge Analytica» heisst es auf der Frontseite, auch wird der Name Le Pen genannt. Es handelt sich jedoch nicht um Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, sondern um ihre Nichte Marion Maréchal Le Pen. «Am Ende bleibt ein mieses Gefühl: So viel Zuspitzung traut sich nicht einmal der Boulevard», schreibt die «Wochenzeitung».
Die Verfasser müssen sich fragen, ob sie sich vom cleveren CEO von Cambridge Analytica instrumentalisieren liessen. Und sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ihre «sensationelle» Enthüllung ein Stück Thesenjournalismus ist, in dem die Maxime gilt: Warum sich eine geile Story von Fakten verderben lassen?
Big Data ist ein wichtiges Thema. Es ist alles andere als ein Geheimnis, dass sie unzähligen Spuren, die wir im Internet hinterlassen, von zahlreichen, nicht immer wohlmeinenden Playern ausgewertet werden. Darunter nicht zuletzt die Online-Giganten, die uns auf diesem Weg massgeschneiderte Werbung zukommen lassen. Natürlich werden solche Methoden auch in der Politik genutzt. Das Thema aber hätte eine fundiertere Betrachtung verdient, insbesondere durch die «klassischen» Medien, die ohnehin ein Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit haben.
Am Ende aber hängt es an uns allen, ob wir bereit sind, jeden Brocken zu schlucken, der uns appetitlich erscheint, obwohl er innerlich vielleicht faul und verrottet ist. Vielleicht sollte man in den Schulen weniger Medienkompetenz lehren, wie da und dort gefordert, sondern die Fähigkeit zum kritischen Denken. Das ist schwierig genug. Und in der heutigen Zeit vielleicht hoffnungslos.
2. Fake News ist überall - nicht bloss auf den Sozialen Medien - bei allen Medien. Es muss schnell gehen - und darum wird kopiert, vielleicht noch ein anderes Bild und einen anderen Titel drauf (möglichst aufreisserisch) und als News verkauft.