«Aufruf: 38 Prozent der in der Schweiz lebenden Türken sollen freiwillig nach Hause reisen», twitterte Bernhard Guhl am Ostermontag. Die Botschaft des BDP-Nationalrats ist unmissverständlich: Wer in der Schweiz lebt und für Erdogan gestimmt hat, der hat hier nichts mehr verloren.
Aufruf: 38% der in der Schweiz lebenden Türken sollen freiwillig nach Hause reisen. @patrik_mueller @AargauerZeitung https://t.co/64MFoQCHkf
— Bernhard Guhl (@BernhardGuhl) April 17, 2017
Aus Deutschland waren ähnliche Stimmen zu vernehmen: Der ehemalige Türkei-Korrespondent des «Spiegels», Hasnain Kazim, schrieb in einem vielbeachteten Beitrag, dass bei denen, die für Erdogan votierten, die «Integration tatsächlich gescheitert» sei. Aber die Schuld, so Kazim, «liegt nicht bei Deutschland».
Vorweg: Die Abstimmung in der Türkei fand unter widrigsten, ja undemokratischen Bedingungen statt. Seit dem Putsch vor einem Jahr herrscht am Bosporus Ausnahmezustand. Die Gerichte, eigentlich die Pfeiler des Rechtsstaats, wurden von der regierenden AKP auf Linie gebracht. Oppositionelle Medien wurden dicht gemacht, unliebsame Journalisten des Landes verwiesen oder gleich eingekerkert. Und der Präsident, eigentlich von Verfassung wegen zur Unabhängigkeit verpflichtet, machte keinen Hehl daraus, wohin er die Türkei zu lenken gedenkt: In die autoritäre Sackgasse, in die Abhängigkeit eines einzelnen Mannes: Recep Tayip Erdogan.
Und ja: Auch wenn die Demokratie dem Volk theoretisch alle Macht in die Hände legt: Schrankenlos ist sie nicht. Dafür sorgen der Rechtsstaat, die Medien, die als vierte Gewalt fungieren, übergeordnetes Völkerrecht und die Zivilgesellschaft.
In der Türkei waren diese Voraussetzungen schon im Vorfeld der Referendums nicht gegeben. Das legen die zahlreichen Unstimmigkeiten und Unregelmässigkeiten während des Abstimmungssonntags nahe. Jetzt, nach dem Sieg des reaktionären AKP-Lagers, sind sie es noch weniger.
Aber: Forderungen, wonach Auslandstürken, die das Präsidialsystem Erdogans befürworteten, doch bitte die Heimreise antreten sollen, offenbaren ein seltsames Verständnis von Demokratie und Staatsbürgerschaft. Nicht genehme Stimmen zum Schweigen zu bringen, indem man ihnen den Abschied auf Nimmerwiedersehen nahelegt, gehört wenn schon ins Reich des Neo-Sultans Erdogan.
Dabei darf man nicht vergessen: Vor nicht allzulanger Zeit galt Erdogan als Brückenbauer. Als einer, der die traditionell starken Ultranationalisten in die Schranken wies, einer, der die Kurdenfrage zu lösen gewillt war, und einer, der für eine starke Türkei eintrat – vor dem Hintergrund der unsicheren geopolitischen Gemengelage in der Region. Viele sogenannte «Realisten» sprachen sich deshalb für Erdogan aus – als Bollwerk gegen den iranischen Gottesstaat und die saudischen Wahabiten. Dass jetzt ausgerechnet auch aus diesem Lager laute Stimmen gegen die Erdogan-Wähler ertönen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Bei den in der Schweiz lebenden Wahlberechtigten – von denen nur rund 38 Prozent Erdogans Ansinnen eines Präsidialsystems unterstützten – handelt es sich in vielen Fällen um schweizerisch-türkische Doppelbürger. Viele von ihnen sind in der Schweiz aufgewachsen, haben das Schweizer Schulsystem durchlaufen, konnten sich eine freie Meinung bilden – kurz: Sie genossen die Früchte einer freien Gesellschaft. Dass sie jetzt trotzdem gegen ebendiese Errungenschaften stimmten, sollte einem zu denken geben – und zur schonungslosen Analyse Anlass sein.
Populistische Plärrereien wie diejenige Guhls sind aber fehl am Platz. Ebensowenig zynische Bemerkungen wie die des «Spiegel»-Journalisten Kazim:
Die Soziologin Bilgin Ayata spricht im Interview mit watson von einer Protestwahl: Viele junge MigrantInnen fühlten sich in dem Land, in dem sie leben, nicht akzeptiert, so Ayata. Dass sie als Reaktion einem Rattenfänger wie Erdogan verfallen, ist bedauerlich, aber nicht weiter erstaunlich. Die Identitätsfrage umtreibt die Bürger in der Postdemokratie ebenso sehr wie sozioökonomische Hard-facts. Gerade in der Schweiz stellen wir das bei Volksinitiativen wieder fest.
Gleichzeitig ist es aber auch ein Hoffnungsschimmer: Identitäten sind formbar. Mittels Werben für die besten Ideen und die besten Werte – und die Demokratie ist nun mal die beste aller politischen Ideen.
Und selbst wenn die 38 Prozent Erdogan-Anhänger in der Schweiz die Schleifung der Demokratie bezweckten: Eine demokratische Gesellschaft wie die Schweiz muss es aushalten, dass in ihr auch Kräfte am Werk sind, die das Fundament des Rechtsstaats untergraben wollen – ob sie das in der Schweiz oder im Ausland tun, spielt keine grosse Rolle. Die Antwort auf diese politische Abwrack-Truppe kann nur in einem verstärkten Engagement für die Demokratie liegen – und in einer strikten, aber verhältnismässigen Anwendung des Gesetzes.
Wer den Erdogan-Anhängern aber die Tür weisen will, der gibt sich vor allem einer verhängnisvollen Illusion hin: dass das Überleben der Demokratie von der Farbe des Passes abhängt.