Herr Dziri, in der Schweiz ist
kürzlich die Burka-Initiative zustande gekommen. Das Volk muss nun
an der Urne über die Frage eines Verschleierung-Verbots abstimmen. Wie
schätzen Sie solche Initiativen ein?
Amir Dziri: Hier soll etwas symbolisch Aufgeladenes Teil einer Bundesgesetzgebung werden, da stellt sich für mich die Frage: was ist da schief gelaufen? Denn es gibt wenige Muslime, die diese Kleidungsstücke tragen.
Was löst eine solche Debatte bei der muslimischen Gemeinde aus?
Die Menschen bekommen den Eindruck, dass es um ihre Identität als Muslime geht. Sie nehmen den Gegensatz wahr: Entweder bin ich loyaler Schweizer oder gläubiger Muslim. Das führt zu Trotzreaktionen und macht das Zusammenleben mühselig. Hätte man sich mit den Muslimen hingesetzt und geschaut, wie denn ihre Haltung zur Burka ist, dann hätte man schnell festgestellt, dass viele sie als Kleidungsstück der hiesigen Gesellschaft ablehnen.
Was schlagen Sie den Initianten vor?
Ich würde vorschlagen, sich
einmal mit Muslimen zu unterhalten. Dann würde man erkennen, dass sie nicht als Objekt eines öffentlichen Diskurses übergangen werden wollen, sondern dass sie partizipieren wollen. Es wäre wünschenswert, wenn die Vielfalt von muslimischen Anschauungen in politischen Vorlagen, die den Islam betreffen, auch öffentlich zur Sprache kämen.
Auch debattiert wird in der Schweiz,
ob muslimische Religionsgemeinschaften staatlich anerkannt werden sollen. Was halten Sie von
dieser Idee?
Die Organisationsstrukturen von Muslimen unterliegen keinen religiösen Vorgaben oder Bedingungen. Daher sehe ich prinzipiell eine grosse Offenheit für solche Ideen. Es liegt an den jeweiligen Akteuren, vorauszusehen, welche Form der institutionellen Integration denn zu den Gegebenheiten passt. Die staatliche Anerkennung einer muslimischen Religionsgemeinschaft wäre ein denkbares Modell.
Sie sind der erste Professor für
islamische Studien in der Schweiz. Erstmals können sich Studenten in
Ihrem Seminar mit der Auslegung des Korans befassen. Warum braucht es
das?
Ich glaube, dass wir uns mit den
Fragen der Auslegung des Islams auseinandersetzen müssen. Wenn wir
das nicht tun, dann tun das andere für uns und wir haben keine
Möglichkeit diesen Diskurs selber zu steuern und uns einzubringen.
Sind Sie da nicht ein wenig spät
dran? Gerade in den letzten Jahren wurde die Debatte um die
Kontextualisierung des Islams in den Medien bereits geführt.
Ich würde eher sagen, in den Medien
hat gar keine Kontextualisierung stattgefunden. Viel eher war der
Islam ständiges Objekt der Berichterstattung. Anscheinend war jede
Einzelheit, die mit dem Islam zu tun hatte, von nachrichtlicher
Relevanz. Der Islam ist zu einem Thema geworden, das viele Menschen stark emotionalisiert. Solche Entwicklungen sind mit Vorsicht zu geniessen.
Was stört sie an der ständigen
Berichterstattung über den Islam?
Dass immer wieder Wertekonflikte
eröffnet werden, gehört zu einer multireligiösen Gesellschaft. Doch
die Diskussion hat sich auf Muslime fokussiert. Es gibt eine Tendenz, gesellschaftliche Fragen nur auf den Islam zu projizieren und zu reduzieren. Die übergeordneten Fragen spielen keine Rolle.
Wie erleben Sie das?
Auf mich hat sich das schon sehr stark
ausgewirkt. Weil ich immer zwischen unterschiedlichen Stereotypisierungen vermitteln muss, nahezu therapeutisch. Das ist interessant, weil ich Einblicke in unterschiedliche Wahrnehmungen und Milieus bekomme. Aber es ist auch sehr fordernd.
Nerven Sie sich ab dieser
Vermittlerrolle?
Ich sehe es als Verantwortung von
jungen Leuten, diese Vermittlerrolle zu übernehmen. Es gibt viele
Muslime, die sagen, es stört sie, immer wieder auf dieselben
Klischees zurückgeworfen zu werden und nicht mehr als Mensch wahrgenommen zu werden. Es ist wohl eine Frage der Zeit, bis sich das
normalisiert und sich eine Kultur des Zusammenlebens etabliert.
Junge Muslime müssen also pauschal
die Verantwortung für etwas übernehmen, für das sie gar nichts
können. Wie argumentieren Sie das?
Meine Gesellschaft besteht aus unzählig diversen Lebensentwürfen. Diese Wahrnehmungen versuche ich in Diskussionen als Stärke einzubringen. Um Brücken zu bauen und
aufzuzeigen, dass die Probleme, die wir haben, meistens gemeinsame Probleme sind. Und dass Lösungen genauso nur gemeinsam entstehen und niemals gegeneinander.
Warum aber wird trotzdem oft eine
Gruppe als Urspung eines Problems gesehen?
Das ist Teil der Soziologie des Menschen und funktioniert überall
auf der Welt so. Gehören Sie in einem Land einer Mehrheitsgruppe an,
die gleichzeitig Normalität und Normativität ist, dann sind Sie
sich dieses Privilegs gar nicht bewusst. Wenn Sie aber als Weisse an
einem Strand in Nordafrika spazieren, dann sind Sie plötzlich etwas
Exotisches und nicht mehr Teil einer Normalität. Plötzlich werden
Anfragen an Sie gerichtet. Der Klassiker in diesem Fall: Wie kann die so rumlaufen?
Und wann werden diese Phänomene
problematisch?
Wenn sie negativ stereotypisiert werden. Wenn Sie also aufgrund Ihres
Auftretens am Strand als freizügige Person gekennzeichnet werden, obwohl Sie selber vielleicht traditionelle Werte sexueller Moral vertreten. Oder wenn jemand automatisch zum
Frauenunterdrücker oder zum Gewalttäter wird, weil er religiös
ist. Das in alle Richtungen zu dekonstruieren, ist wichtig.
Diese Stereotypisierung ist aber
bereits weit fortgeschritten. Kürzlich sagte AfD-Politiker Alexander
Gauland in einem Interview, der Islam passe nicht zu unseren Werten.
Das ist bewusst plakativ. Er sagt ja nicht, von
welchen Werten er spricht. Mal angenommen er bezieht sich auf das
konservative Parteiprogramm der AfD, wo Familie, Solidarität und
vielleicht noch Disziplin und Verpflichtung als wichtige Werte
gelten. Bei vielen Menschen muslimischen Glaubens finden sich die genau selben Werte. Es gibt Muslime, deren Weltbild gleich wertkonservativ wie
jenes der AfD oder der SVP ist und es gibt viele Muslime, deren Weltbild ein freiheitlich-demokratisches ist. Es gibt keinen Kampf der Kulturen, es gibt aber einen Kampf der Fundamentalismen.
Was ist also das Problem?
Die Verunsicherung über die Identität.
Das ist es, was die Leute antreibt. Dieses emotionale Bedürfnis,
sich klar einer Identität zuordnen zu können und jede Rationalität darüber über Bord zu werfen.
Wer ist verunsichert?
Die allermeisten in der Gesellschaft
sind verunsichert, wenn es darum geht, zu definieren, wer wir sind
und was uns ausmacht. Darum grenzen sich die Menschen ab. Das sieht
man oft bei rechtspopulistischen Parteien. Aber es ist ein Zeitgeist, der genauso muslimische Gesellschaften bewegt. In Nordafrika etwa oder in der Türkei ist die
Identitätsfrage derzeit von grosser Relevanz. Einfach unter umgekehrten
Vorzeichen. Man versucht sich über die islamische Zugehörigkeit zu
identifizieren, was genauso zu repressiven und exklusiven Haltungen führt. Diese Meschanismen zu entlarven ist der Auftrag der besonnenen und
vernünftigen Stimmen.
Sehen Sie sich als Teil dieser
Stimmen?
Ja, natürlich. Genau deshalb versuche
ich mich einzubringen. Ich sehe mich nicht als Anwalt der Muslime.
Sondern es geht mir darum, bestimmte Phänomene sachgemäss oder
sachgerecht zu dekonstruieren. Dabei habe ich kein Problem, auch
Muslime für bestimmte Verhalten zu kritisieren. Oder den Koran für
eine bestimmte Auslage zu kritisieren. Wir müssen hierbei jedoch darauf achten, gesellschaftliche Problemfragen nicht auf Muslime allein zu reduzieren und sie zum Sündenbock für alles zu machen.
Wenn es also reine Sündenbock-Politik
ist: Welches sind denn Ihrer Meinung nach die wahren Probleme?
Man muss sich überlegen, woher die
Probleme wirklich rühren. Die AfD und andere rechtspopulistische Bewegungen
formulierten ursprünglich eine Kapitalismuskritik. Das grosse Thema des völlig in Vergessenheit geratenen Bernd Lucke (Gründervater der AfD, Anmerkung der Redaktion) war der Ausstieg aus dem Euro. Das Einhaltgebieten gegen den internationalen Finanzkapitalismus und eine Neukonsolidierung von sozialer Gerechtigkeit waren die wichtigen politischen Themen. Das war der eigentliche Missstand, der von vielen wahrgenommen wurde. Er wurde dann allerdings von bestimmten Gruppen in einen Kulturkonflikt gelenkt.
Warum ist das so?
Weil es einfach ist. An Bewegungen wie Occupy oder Attac hat man gesehen, wie schwierig es ist, mit einer begründeten Kapitalismuskritik eine kritische Masse für dieses Ziele zu bewegen. Mehr Zulauf erhalten Sie, wenn Sie eine emotionale Gerechtigkeitsdebatte führen und einen Wertekonflikt mit einer vermeintlich inkompatiblen Gruppe heraufbeschwören. Man diskreditiert einen Teil und hofft damit das Ganze wieder in geordnete Bahnen lenken zu können.
Und obwohl dies so ist, obwohl es
auch unter Muslimen viele Unterprivilegierte gibt, müssen sie
dennoch als Sündenbock herhalten?
Man solidarisiert sich nicht innerhalb einer sozialen Klasse sondern
lässt sich auf ideologische Zuschreibungen ein, welche Leitkultur
denn jetzt die bessere sei, die islamische oder die schweizerische. Doch eigentlich geht es oftmals nicht darum, wer welche Religionszugehörigkeit hat,
sondern um soziale und politische
Gerechtigkeit und Solidarität. Würde man das mal als
Gegenstandsfrage definieren, könnte man sich eher und
lösungsorientierter einbringen anstatt sich auf irgendwelche
Kulturkampfrhetorik einzulassen.
Was würden Sie den
Rechtspopulisten empfehlen? Wohin sollen sie ihre Wut richten?
Die Wut ist immer ein schlechter
Berater. Man muss die eigentlichen Sachfragen in den Vordergrund
stellen.
Religion ist Ihrer Meinung nach nie
Ursprung des Problems?
Doch,
es gibt durchaus Momente, wo die Religion als
solche in Konflikten eine Rolle spielt. Und das soll natürlich auch
thematisiert werden. Genau das verstehe ich unter Versachlichung.
Islamistisch motivierte Anschläge
in Europa haben zu einer grossen Verunsicherung gegenüber dem Islam
geführt. Was geht ihnen durch den Kopf, wenn Sie von erneuten
dschihadistischen Anschlägen hören?
Grosse
Trauer. Von vielen Muslimen höre ich, dass sie jeweils flehen, dass
die Attentäter keine Muslime waren. Das geht mir auch so. Das ist
sehr bedrückend. Aber auch hier müssen wir den Sachverhalt deutlich
benennen: Gewaltbereite Dschihadisten sind in aller erster Linie
Täter und stehen in Verantwortung für ihr Handeln. Wir müssen in
aller Entschiedenheit deutlich machen, dass wir das nicht dulden.
Eine viel diskutierte Frage ist ja,
ob es der Islam ist, der die Leute zu solchen Gewaltakten verleitet.
Wie stehen Sie dazu?
Das
Fahren eines Autos in eine Menschengruppe haben wir jetzt schon
mehrmals als perverse Strategie von islamistischen Attentätern
erlebt. Aber nicht nur. In Charlottesville war es ein
rechtsorientierter Attentäter, in England ist ein Mann aus
antimuslimischen Motiven in eine Gruppe betender Menschen gefahren.
Die wichtige Frage ist, was Menschen dazu treibt, solche
Gewaltfantasien zu entwickeln und dann tatsächlich auch
durchzuführen. Bei der Beantwortung dieser Frage stelle ich fest,
dass es durchaus einen Bezug zur Religion gibt. Das
Polarisierungspotenzial von Religionen kann gezielt genutzt werden,
um Menschen dazu zu verleiten, Gewalttaten zu legitimieren.
Wo liegt das Polarisierungspotenzial
des Islams?
Eben
wiederum in solchen Abgrenzungsdiskursen, die man im Koran natürlich
findet. Zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Oder zwischen Wahrheit und Nicht-Wahrheit. Darum sage ich auch, liegt die
Verantwortung bei den Muslimen, offensiv damit umzugehen. In dem
Moment, wo jemand die Freiheitsrechte anderer Menschen zu negieren beginnt, wird auch Religion zu einer Ideologie und
zu einer Last.
Lassen sich solche
Abgrenzungsdiskurse nicht in allen Lebensfragen finden?
Doch,
natürlich. Darum ist es nicht das Problem von muslimischen
Gesellschaften allein. Der Ukrainekonflikt hat beispielsweise dazu
geführt, dass russisch- wie ukrainischstämmige Soldaten aus der
Deutschen Bundeswehr desertiert sind und sich den Kampfhandlungen vor
Ort angeschlossen haben. Es ist das gleiche Phänomen: wenn wir
ethnische, sprachliche, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeiten
verabsolutieren, geraten wir automatisch in konfrontative
Situationen.
Was bedeutet Ihnen Ihre Religion
persönlich?
Religion ist für mich eine positive Ressource. Autogenes Training wird heute während eines langen
Arbeitstages als positives Trendsetting gewertet, während ein Gebet
in der genau selben Form stark negativ assoziiert wird. Unser
historisches Gedächtnis in Europa vermittelt uns zurecht eine enorme
Skepsis gegenüber jedem religiösen Erscheinungsbild. Diese
Wachsamkeit müssen wir bewahren. Allerdings auch gegenüber
allen anderen Modellen von Lebensentwürfen und Weltanschauungen. Für mich bedeutet das vor allem
ständige und bisweilen mühselige Momente der Selbstreflektion. Aber das erwarte sie auch von anderen, von Muslimen wie Nicht-Muslimen.