Letzte
Nacht fragte mich mein Liebesleben vor dem Einschlafen: «Was ist eigentlich
Franz Hohlers Hintergrund?» Ich hatte darüber noch nie nachgedacht und sagte: «Sein
Vater war sicher Lehrer.»
Franz Hohler: Auf jeden Fall, ja!
Mike
Müller, der wie Sie aus Olten kommt, ist ebenfalls Lehrersohn. Ist man als
Lehrersohn dazu bestimmt, Kabarettist, Comedian oder komischer Schauspieler zu
werden?
Das glaub ich nicht. Die offensichtlichste
Möglichkeit für einen Lehrersohn ist, selbst Lehrer zu werden. Das war durchaus
ein Biografie-Entwurf von mir, als ich um die zwanzig war. Aber ich hatte auch
diese andere Biografie, diese Traumbiografie im Kopf: Dass ich von und mit
meinen eigenen Ideen leben könnte. Das war schliesslich der Weg, den ich
wählte.
Wie alt
wurde Ihr Vater eigentlich?
101. Er starb erst letzten Sommer, das war
erstaunlich. Ich musste mich darauf einstellen, auf dieses Ungewöhnliche, so
lange Kind zu bleiben. Ich bin ein altes Kind. Ich bin erst mit 74 zur
Vollwaise geworden.
Und die
Mutter?
Die wurde 95. Die beiden sind in Solothurn in
die gleiche Seminarklasse gegangen. Die Klassenzusammenkünfte schrumpften immer
mehr, am Ende waren sie die einzigen, die kamen. Seine letzten drei Jahre
verbrachte Vater in einem sehr schönen Altersheim. Ich habe ihn einmal die
Woche besucht, und nach dem Essen jassten wir. Irgendwann, zwischen Frühling
und Sommer letztes Jahr, kannte er die Jassregeln nicht mehr. Da wusste ich: Jetzt
geht’s in die Endrunde. Das war ein trauriger Moment, denn Jassen ist mehr als
ein Spiel, es ist auch ein Stück Kommunikation. Und wenn die Grundlage nicht
mehr funktioniert, ist klar, jetzt ist etwas verloren gegangen und kommt nicht
wieder.
Das
beruhigt mich sehr, denn das heisst: Sie werden ebenfalls sehr alt werden.
Das weiss man nie. Ich komm gerade von einem
Arzttermin und habe gehört: «Es isch nüt.» Das ist in jedem Alter eine
Beruhigung. Aber je älter man wird, desto öfter sieht man, wie die «Diagnosen»
links und rechts einschlagen. Heute sagt man ja statt Krebs nur noch
«Diagnose».
Sie
gehören für mich zu den wenigen, die ihre Meinung über die Jahre nicht geändert
haben und sich treu geblieben sind. Wie wichtig ist Ihnen eine konsequente
Radikalität im Denken und Handeln?
Ich finde es zunehmend schwierig, «das Richtige»
zu denken. Wir sind heute mit Fragen konfrontiert, auf die es keine klaren
Antworten gibt und die unser Verständnis überfordern. Wenn man sich die
AHV-Abstimmung anschaut und wie unterschiedlich die Prognosen der Fachleute
waren, die sich doch hauptberuflich damit beschäftigen, ihre Rechnungen anzustellen
und ihre Prozentverläufe vorauszusehen, dann wundere ich mich immer mehr über
die direkte Demokratie.
Worüber genau?
Darüber, dass man uns so viel Fachwissen zutraut.
Fachwissen, das ich im Ernst nicht habe. Ich werde in regelmässigen Abständen
gefragt, ob ich nicht zu einer Galionsfigur für die Vollgeld-Initiative werden
möchte. Aber ich kann mich nicht dazu entscheiden, weil ich letztlich die
Konsequenzen zu schlecht abschätzen kann. Ich weiss zu wenig über den
Geldfluss, ich halte Geld sowieso für eine höchst volatile, rätselhafte
Angelegenheit.
Die
ganze Erweiterung des Geldes im virtuellen Raum macht’s auch nicht einfacher.
Eben! Kryptowährungen, Bitcoins ... Ich
versuche, mich so zu orientieren, dass ich mir eine Meinung bilden kann, die
ich für richtig halte. Wenn ich höre, ich hätte meine Meinung nie geändert, ist
das ja auch eine Kritik. Es gibt diese Geschichte von Brecht, in der einer den
Herrn K. länger nicht gesehen hat und sagt: «‹Sie haben sich gar nicht
verändert.› Herr K. erbleichte.» Veränderung hat auch ihre positive Seite,
sie ist immer auch ein Stück Bewegung.
Eigentlich
sind Sie seit zehn Jahren pensioniert.
Ja, nach den geltenden Regeln.
Aber an
Ihrem Arbeitsalltag scheint sich nichts verändert zu haben.
Ich mache gerne, was ich mach. Als ich 65
wurde, dachte ich: So, jetzt gehörst du offiziell zu den Rentnern! Und da roch
ich einen kurzen Moment lang ein kleines Stückchen von sowas wie Freiheitsduft.
Sagten
Sie da zu Ihrer Frau: Komm, jetzt machen wir eine Kreuzfahrt?
Eine Kreuzfahrt wär ungefähr das Letzte, was
ich machen möchte! Ich habe mir immer Mühe gegeben, kein Arbeitstier zu werden,
ich hab mit meiner Familie zusammen vieles gemacht, was unter den Begriff
Freiheit fällt. Ich wollte die Freiheit nicht ins Rentenalter aufschieben.
Hätten
Sie als junger Mann mal damit gerechnet, dass Sie einmal zu den
allerbeliebtesten Schweizern gehören würden?
Nicht wirklich. Ich weiss auch nicht, ob das
stimmt.
Doch,
doch! Vor diesem Interview fragte ich auf der watson-Redaktion – sie ist sehr
jung – mal in die Runde, was den Leuten Franz Hohler so bedeuten würde. Die
Antwort war: «Oh, Franz Hohler ist so jöööh!»
Ja? Super! Klingt nach etwas zwischen Liebe und
Mitleid.
Es geht
jetzt aber nicht um Ihren Jöh-Wert, sondern darum, dass Sie aus Ihrer Position
heraus den jungen und nicht mehr ganz so jungen Menschen in der Schweiz jeden
Ratschlag geben könnten und er würde befolgt. Macht Ihnen das Angst? Freude?
Ich werde oft nach der Bruchstelle in meinem
Werdegang befragt, als ich mit 22 die Uni verliess. Rückblickend war es ein
einschneidender Entscheid, ein Studium abzubrechen, meine Eltern hatten gar
keine Freude. Andere sagten: Das ist aber mutig! Ich habe es nie als mutig
empfunden. Ich rate niemandem dazu, ein Studium oder eine Lehre frühzeitig zu
beenden. Zu sagen «jetzt brech ich diese Brücken ab», ist keine Garantie für
Erfolg. Es ist danach nicht einfach.
Das
gilt ja auch für andere Bereiche, etwa Beziehungen.
Ja genau! Meine Ermutigung ist meistens:
Machen, was man gerne macht. Wenn jetzt jemand sagt: «Ich interessiere mich
fürs Georgische», dann sag ich: «Ja, dann studier doch Georgisch!» Man soll
sich nicht fragen: Aber was mach ich später einmal damit? Vielleicht wird ja
Georgien plötzlich eins der wichtigsten Länder der Welt, weil man neue
Ölvorräte entdeckt, alle seckeln nach Georgien, aber niemand spricht Georgisch.
Als ich jung war, galt es als vollkommen exotisch, Chinesisch zu studieren.
Dabei wäre es heute so nützlich!
Wenn
man tut, was man selbst für gut betrachtet, kann man sich später wenigstens
einmal nicht vorwerfen, man habe es nicht probiert. Etwas Anderes machen kann
man immer noch, gerade heute, wo die Berufsbilder so verschwommen sind. Früher
lernte man Bäcker und blieb es ein Leben lang, da konnte er höchstens noch ein
eigenes Geschäft oder eine Gipfeli-Kette eröffnen. Heute gibt es Banker, die
Altphilologie studiert haben.
Sie
stehen seit gut 50 Jahren in der Öffentlichkeit. Hat sich die in Ihrer
Wahrnehmung verändert?
Was ist Öffentlichkeit? Einerseits heisst
Öffentlichkeit, dass man sich selbst zeigt und Leute da sind, die zuhören. Das
ist normalerweise eine freundliche Öffentlichkeit, die Leute kommen mit einer
Erwartungshaltung, die wissen nicht gar nichts über mich. Dann gibt es die
Öffentlichkeit, die über die Presse gemacht wird.
Ein
frustrierendes Thema.
Der gedruckten Presse geht es schon lange
schlecht, nicht erst seit gestern. Als ich jung war, gab es in Olten drei
Tageszeitungen, «Oltner Tagblatt», «Der Morgen», «Das Volk». Bei einer Stadt
von 20'000 Einwohnern und ein bisschen Umland! Und ich weiss noch, wie
schockiert ich war, als 1977 in Basel die «Basler Nachrichten» und die
«National-Zeitung» zur «Basler Zeitung» fusionierten. In der einen hatte
gestanden, ich sei gut, in der andern das Gegenteil. Und ich wusste: Jetzt
gibt’s nur noch eine Meinung, die zählt.
Schlechte
Kritik für Franz Hohler kann man sich so gar nicht vorstellen.
Durch meine Auftritte in Radio und Fernsehen
bekam ich früher viel negative Kritik, ich polarisierte, ich galt als nicht
mehrheitsfähig. Kam dazu, dass damals alle den einen Sender schauten, das Wort
«Monopolmedium» war sehr wichtig in den Diskussionen zur Frage: Ist man
inhaltlich zu weit gegangen oder nicht? Auch auf die frühen «Franz und
René»-Sendungen erhielten wir unglaublich kritische Zuschriften, es sei zu
unruhig, zu wenig kindlich. Wenn man sich das heute anschaut, ist es von einer geradezu aufreizenden
Langsamkeit.
Was war
denn eigentlich der Auftrag für «Franz und René»?
Das Fernsehen suchte ein Format für
Vorschulkinder, also Analphabeten. Deshalb wollte ich auch mit einem Pantomimen
wie René Quellet zusammenarbeiten, der alles, was ich sage, mit Gesten und
verlangsamt noch einmal spiegelt. Aus diesem dramaturgischen Grundgedanken
erwuchs sehr schnell die Struktur «vom Erwachsenen zum Kind». Ich war der
Erwachsene, René das Kind. Das nichts sagt. Das noch nicht redet.
Schön!
Kehren wir zum Thema Öffentlichkeit zurück: Wie schätzen Sie das Aggressionspotential
einzelner im Kontext von sozialen Medien und Kommentarspalten ein?
Mit dem Internet kam etwas hinzu, das für mich
eine bedrohliche Komponente hat: Die Leichtigkeit, mit der man jemanden
angreifen, beleidigen, beschimpfen, mit unqualifizierter Kritik überschütten
kann. Da ist die Öffentlichkeit ein Stück aggressiver geworden. Ich bin mir nur
nicht sicher, ob diese Aggressivität nicht auch früher schon da war, sie hatte
einfach kein Ventil, die Leute machten die Faust im Sack. Mit einer Morddrohung
zum Beispiel musste man sich deutlich mehr Mühe geben als heute, musste einen
Brief schreiben, ihn in ein Couvert stecken, eine Marke draufkleben – gut es
gab auch solche, die schrieben «Porto bezahlt der Empfänger» ... Ich besitze
einen ganzen Ordner voller Hassbriefe, das sind auch interessante
Zeitdokumente.
Erhielten
Sie auch Briefe mit ausgeschnittenen Buchstaben?
Auch die gab es, die ganze Palette. Es kam zu
durchaus bedrohlichen Momenten.
Mussten
Sie schon die Polizei einschalten?
Vor einer Veranstaltung im Berner Bierhübeli
schickte mir einer eine Karte vom Berner Gerechtigkeitsbrunnen mit der
Justitia. Hinten drauf schrieb er «John Lennon» mit einem Kreuz und «Franz
Hohler» mit einem Kreuz. Ich fragte den Veranstalter, wie ernst wir das nehmen
müssten, er sprach mit der Polizei und die sagte: «Wenn ihr das wollt, kommen
wir nach so einem Brief natürlich. Aber dann gibt’s Waffenkontrolle für alle beim
Eingang.» Ich dachte mir, nein, das kann man dem Kleinkunstpublikum im
Bierhübeli nicht antun.
Nein, wirklich nicht.
Aber zu Beginn des Abends sagte ich: «Ich habe sehr
unangenehme Post aus Bern erhalten. Alle, die neben einer ihnen unbekannten
Person sitzen, sollen sich doch kurz vorstellen.» Die Stimmung war sofort gelöst. Die Leute
sagten: «Sämi Meier» – «Freut mich, Yvonne Hostettler.» Es war eine
Entanonymisierung gegen eine anonyme Drohung. Aber ja, ich halte das
Aggressionspotenzial der Menschen allgemein für sehr hoch.
Der
Mensch ist ein gefährliches Tier.
Der Mensch ist gefährlicher als ein Tier, weil
er unberechenbar ist.
Das ist
ein sehr schöner Schluss, vielen Dank für dieses Gespräch.
Was? Wir sind schon fertig?