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Interview

Listen-König Martin Bäumle: «Ich mochte Listenverbindungen überhaupt nie. Viel lieber hätte ich ein gerechtes Wahlsystem»

«Ich muss versuchen, das System zu optimieren. Und da ich gut rechnen kann, hat das geklappt», sagt Martin Bäumle. Bei diesen Wahlen will es mit dem Optimieren noch nicht so klappen. 
«Ich muss versuchen, das System zu optimieren. Und da ich gut rechnen kann, hat das geklappt», sagt Martin Bäumle. Bei diesen Wahlen will es mit dem Optimieren noch nicht so klappen. Bild: watson/rafaela roth
Interview

Listen-König Martin Bäumle: «Ich mochte Listenverbindungen überhaupt nie. Viel lieber hätte ich ein gerechtes Wahlsystem»

Der Chef der noch jungen Grünliberalen Partei GLP befindet sich nach den Ferien schon wieder mitten im Wahlkampf. Bei den Wahlen vor vier Jahren ist er mit ausgereifter Listen-Taktik aufgefallen. Martin Bäumle über seine Hassliebe zu Listenverbindungen, seinen Töff und den heissen Sommer 2015. 
17.08.2015, 17:0017.08.2015, 17:50
Rafaela Roth
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Herr Bäumle, gerade Sie dürfte man eigentlich nicht in den Ferien zu einem Interview überreden. Sie haben die Tendenz, sich zu überarbeiten. 
Martin Bäumle:
Ja, deswegen dürfen Sie das Interview erst am Montag bringen, damit es nicht gleich wieder los geht. Ich wollte eigentlich länger bleiben. Aber das Wetter hat mich gezwungen, zurück zu kommen. Wir waren mit dem Töff unterwegs. 

Wo ging's hin? 
Wir waren in Kärnten in Österreich.  

Mit Ihrer Frau?
Nein, mit einem Schulfreund – aber wollten Sie nicht über Politik sprechen? 

Wir sind doch mittendrin: Ist es als Grünliberaler okay, ein CO2-relevantes Hobby zu haben? 
Natürlich. Niemand ist perfekt und ich habe meine Limite, die ich immer unterschreite. Wenn man keine Belastung für die Umwelt sein will, dürfte man gar nicht geboren werden. Ich versuche, möglichst nachhaltig zu leben. Beim Auto habe ich mich für einen Tesla S entschieden. Vergleichbare Elektro-Töffs wird es wohl noch länger nicht geben. 

GLP-Natioalrat Martin Bäumle
GLP-Natioalrat Martin BäumleBild: watson/rafaela roth
Zur Person
Martin Bäumle ist studierter Chemiker und Atmosphärenwissenschaftler mit ETH-Abschluss. Der 51-Jährige zog 2003 für die Grünen in den Nationalrat. 2004 spaltete er sich mit Gleichgesinnten von der Mutterpartei ab und gründete die Grünliberale Partei Schweiz (GLP), die er präsidiert. Seit 1998 sitzt er als Finanzvorsteher im Stadtrat von Dübendorf. Dort lebt er mit seiner ukrainischen Frau Yuliya. (rar) 

Waren das Ihre letzten Ferien vor dem Wahlkampf? 
Ja, das ist definitiv so. Ich habe versucht, noch einmal runterzufahren und zu geniessen. Jetzt geht es los. Eigentlich hat es ja schon in den letzten Wochen begonnen. 

Ja, die Paarungszeit hat begonnen. Die Parteien umwerben sich gegenseitig für gute Listenverbindungen. Mit Ihrer Partei will niemand zusammen spannen.  
Ach was. So tragisch ist es nicht.  

Etwas harzig läuft es schon. 
Ja, es läuft etwas harzig. Das gebe ich zu. Aber es ist noch nicht aller Tage Abend.

Im Kanton St. Gallen stehen Sie allein auf weiter Flur. Auch im Thurgau, wo es letztes Jahr besonders gut lief, verlieren Sie womöglich Ihren Sitz. Sie haben noch Hoffnung? 
Im Thurgau haben wir bei den letzten Wahlen die optimale Listenverbindung hingekriegt. Dieses Mal war das nicht möglich. Trotzdem besteht die Hoffnung, dass wir die beiden Ostschweizer Sitze verteidigen können. Und in St. Gallen ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. 

«Ich war immer sehr transparent und fair mit den Partnern. Ich habe nie versucht, jemanden über den Tisch zu ziehen.»

Sie denken, die entscheiden sich noch um? Die BDP hat Ihnen öffentlich einen Korb gegeben.
Das erste Mal wäre es nicht, dass eine Partei sich noch kurzfristig umentscheidet. In einigen Kantonen können noch bis September Listenverbindungen eingegeben werden. Bis dahin wird weiter diskutiert. Die BDP ist teilweise Listenverbindungen eingegangen, die ihr überhaupt nichts bringen. Sie hängen sich jetzt an die CVP, ohne richtig gerechnet zu haben. Sie haben dieses Jahr auch ungewöhnlich früh zugesagt und kommen da jetzt nicht mehr raus.

Bei den Nationalratswahlen 2011 hatte die GLP nicht weniger als die Hälfte ihrer zwölf Mandate geschickten Listenverbindungen zu verdanken. Das Rechner-Hirn dahinter waren Sie. Haben Sie zu hoch gepokert und für diese Wahlen alle vergrault? 
Nein, das glaube ich nicht. Ich war immer sehr transparent und fair mit den Partnern. Ich habe nie versucht, jemanden über den Tisch zu ziehen. Wo die Vor- und Nachteile für mich und für die anderen sind, habe ich immer offen gelegt. 2011 lief es tatsächlich optimal für uns. Das hat selbst mich überrascht. Es hätte auch anders ausgehen können. Es gab einige Sitze, bei denen die Chancen Fifty-Fifty standen, ob wir oder die BDP sie gewinnen. Sie hatten einen ähnlichen Wähleranteil wie wir.

Listenverbindungen – einfach erklärt
Vor den Nationalratswahlen buhlen die Parteien um Listenverbindungen. Sich nahestehende Parteien geben ihre Wahllisten gemeinsam ein und versuchen so, ihre Chancen auf Sitze im Parlament zu verbessern

Solche Listenfamilien sind wegen des Schweizer Proporzwahlsystems nötig. Es sieht vor, dass Sitze proportional zur Anzahl der Stimmen verteilt werden, die für eine Partei abgegeben werden.
Dabei wird abgerundet. Macht eine Partei beispielsweise genug Stimmen für 1,5 Sitze, erhält sie nur einen Sitz und verliert den halben. Macht sie 0,9 Sitze, erhält sie gar keinen. 

Also schliessen sich zwei oder mehrere Parteien in Listenverbindungen zu einer «Familie» zusammen. So wird nur einmal pro Familie abgerundet und die Restsitze werden innerhalb der Familie proportional zum Wähleranteil verteilt. Zwar profitiert so doch wieder die grösste Partei innerhalb der Familie, die kleinen erhalten aber die Chance, doch einen Sitz zu ergattern. (rar) 

So wie es jetzt aussieht, werden Sie die 12 Nationalratssitze kaum halten können. 
Das werden wir dann am 18. Oktober abrechnen. Ich schaue das durchaus als möglich an. Wir können auch zulegen. Ich rechne mit zwischen 8 und 14 Sitzen. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass wir unseren Wähleranteil noch etwas ausbauen können.  

Gemäss den letzten Umfragen werden Sie den Wähleranteil nur etwa ganz knapp halten können. 
Bei Umfragen bin ich immer skeptisch. Da werden wir am einen Tag hochgeschrieben und am anderen runter. Ich warte die Wahlen ab. Dass das Wachstum nicht einfach so weiter geht, war uns schon immer klar. Vor vier Jahren haben wir von Fukushima und der Neugründungs-Euphorie profitiert. Jetzt werden wir von der Konkurrenz ernst genommen. Wir müssen um jede Stimme kämpfen.

Dabei scheint Ihnen nichts heilig zu sein. Ob EDU oder Ecopop, wenn es Ihnen nützt, würden Sie mit jedem zusammenarbeiten, oder? 
Unseren Wählern ist es wichtig, dass wir unsere Politik durchsetzen. Dafür brauchen wir Sitze. Und damit wir überhaupt Chancen auf einen Sitz haben, muss ich die Listenverbindungen optimieren.

«Dieses Wahlsystem ist einfach nicht gerecht. Die kleinen Parteien schaffen es fast nicht, ihr Wähleranteil in Sitze umzumünzen.» 

Trotzdem, wenn ich GLP wähle, will ich vielleicht nicht, dass meine Stimme der EDU helfen könnte. Müssten diese Verbindungen nicht transparenter gemacht werden? 
Geheim sind sie ja nicht. Aber ohne Listenverbindungen fallen die Sitze dann automatisch den grossen Parteien zu. Denn dieses Wahlsystem ist einfach nicht gerecht. Die kleinen Parteien schaffen es fast nicht, ihr Wähleranteil in Sitze umzumünzen. Deswegen haben wir ja im Kanton Zürich jahrelang gekämpft, bis wir das Pukelsheim-System hatten. 

Was ist besser am Pukelsheim-Wahlsystem? 
Es ist fair. Die Sitze werden den Parteien mathematisch korrekt zugeteilt – für jedermann nachvollziehbar. Das heutige ist es nicht, weil die Mathematik die Grossen massiv bevorteilt.

Müsste man das Pukelsheim-System auch auf nationaler Ebene einführen? 
Natürlich, aber das ist einfach schwierig durchzusetzen, weil das Anliegen keine Mehrheit findet. Die grossen Parteien haben Bedenken Sitze zu verlieren, weil das heutige Wahlsystem sie bevorteilt. 

«Aber weil das System heute nun mal so ist, muss ich versuchen, zu optimieren. Und da ich gut rechnen kann, hat das geklappt.»

Höre ich richtig? Der König der Listenverbindungen mag die Listenverbindungen gar nicht? 
Ich mochte Listenverbindungen überhaupt nie. Viel lieber hätte ich ein gerechtes Wahlsystem. Aber weil das System heute nun mal so ist, muss ich versuchen, zu optimieren. Und da ich gut rechnen kann, hat das geklappt. 

Wurde die GLP auch durch die harte 92%-Niederlage bei der Energie-statt-Mehrwertsteuer-Initiative ausgebremst? 
Das war nicht nur für die Partei sondern auch für mich persönlich schlimm. Ich glaube immer noch an diese Idee. Ich bin mir sicher, dass man in 20 Jahren positiver darüber sprechen wird. Wir waren zu früh und wollten zu viel. 

Aber warum sollte man die GLP wählen, wenn man gar nicht will, was die GLP will? 
Man wollte uns schlicht im Vorwahljahr keinen Punkt geben, deshalb haben wir verloren. Aber massiv geschadet hat uns das nicht. Unser Hauptthema wurde diesen Sommer von alleine wieder aktuell. 

Es war recht heiss. 
Ja, es war warm. Es ist aber nicht so, dass wir erst seit diesem Sommer ein Problem haben. Der Klimawandel ist eine Realität. Aber angesichts dieses Sommers wird es für alle offensichtlich, auch für die Medien. 

«Die GLP nimmt den Klimawandel auch vier Jahre nach Fukushima noch ernst und will die Energiewende konsequent umsetzen.»

Und da kommen Sie ins Spiel? 
Ja, die GLP nimmt den Klimawandel auch vier Jahre nach Fukushima noch ernst und will die Energiewende konsequent umsetzen. Der Ständerat hat gerade das Langzeit-Sicherheitskonzept für alte Kernkraftwerke abgelehnt und setzt damit bewusst die Sicherheit aufs Spiel. Wir haben das wirtschaftliche Know-How und das Umweltwissen, diese Probleme zu lösen. 

Wir haben aber nur über Asylchaos und nicht über die GLP geredet, währenddem wir schwitzten. 
Ein Thema aktiv zu lancieren ist eben gar nicht so einfach. Ich gehe davon aus, dass die Leute am eigenen Leib gemerkt haben, dass etwas passiert und beim Abstimmen daran denken werden. Wir müssen die Energiewende als Chance packen.

Bei einem rechtsrutsch steht die Energiewende auf der Kippe. 
Naja, einen grünliberalen «Rechtsrutsch» fände ich super. Dann geht es nicht nur der Umwelt, sondern auch noch der Wirtschaft besser. Denn das Baugewerbe wird massiv von ihr profitieren. Aber klar, bei einem antiökologischen Rechtsrutsch in Richtung SVP und FDP könnte die Energiewende in Frage gestellt werden. 

Wie fest wird es sie verletzen, sollten Sie nicht in den Ständerat gewählt werden? 
Ich wäre schon sehr gerne Ständerat. Nicht nur wegen der Partei. Es wäre auch für mich persönlich einen nächsten Schritt. Aber ich bin auch gerne Nationalrat. Es würde keine Welt für mich unter gehen.

Sind Sie ein guter Verlierer? 
Ich denke schon. Ich musste mehr Niederlagen wegstecken, als ich Erfolge feiern durfte. Aber wir sind bei der GLP etwas erfolgsverwöhnt. Das versuche ich jetzt auch meinen Leuten zu vermitteln: Dass wir jetzt kämpfen müssen und uns nichts mehr geschenkt wird. Uns ist das vielleicht noch zu wenig bewusst. 

«Vielleicht, aber Sauglattismus betreiben, wie das andere Parteien tun, wollen wir nicht. Wir haben einen gewissen Anspruch an eine Seriosität.»

Warum kennt man eigentlich Sie so gut und ihre Leute so wenig? 
Das stimmt einfach nicht. Es kamen viele gute Leute nach. Unsere Fraktionschefin, Tiana Angelina Moser ist ja wohl sehr präsent. Die Journalisten wollen einfach immer mit dem Chef reden. Aber ich versuche meine Leute schon mehr zu motivieren, eine Idee mal zu lancieren auch wenn noch keine Doktorarbeit über sie verfasst wurde. 

Sind sie zu verkopft? 
Vielleicht, aber Sauglattismus betreiben, wie das andere Parteien tun, wollen wir nicht. Wir haben einen gewissen Anspruch an eine Seriosität. Ich glaube, das merken auch die Wählerinnen und Wähler. Wir sind authentisch gesellschaftsnah. 

Warum gesellschaftsnah? 
Unsere gesellschaftspolitischen Vorstösse sind authentisch. Mit dem Adoptionsrecht für homosexuelle Paare haben wir einen relativ radikalen Vorschlag im Nationalrat ins Spiel gebracht. Und diese gesellschaftsliberalen Ansichten sind in unserer Basis verankert, wir leben das. Es sind keine Lippenbekenntnisse, wie sie andere Parteien jetzt vor den Wahlen machen. 

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