Der «Hönggerberg-Mörder» Luis W. erschoss 2007 eine 16-Jährige. Brutal und ohne Grund. Trotzdem hat er jetzt Hafturlaub bekommen. Warum?
Thomas Knecht*: Hafturlaube sind zwingend. Es gehört zur Philosophie unseres Justizsystems, möglichst wenig Menschenleben zu verlieren.
>>> Wer entscheidet über die Gewähr von Hafturlaub? Und wie? Fünf Fragen und Antworten.
Das müssen Sie erklären.
Würde man Insassen bis zum Ende der Strafe hinter Gitter behalten, würden sie sich von der Realität entfremden, schliesslich von der Freiheit komplett überfordert werden und viel eher ein weiteres Delikt begehen. Es ist also sicherer, wenn Täter resozialisiert werden – lernen, sich in ein soziales Gefüge einzubetten. Schliesslich kommen ja fast alle Straftäter irgendwann frei. Darauf ist der Strafvollzug ausgerichtet.
Ist das bei Luis W. nicht zu früh? Immerhin wird die Rückfallquote für ein Tötungsdelikt noch als moderat eingeschätzt.
Das ist eine Rückfallquote von nur 0-3 Prozent. Die Erfahrung zeigt zudem, dass während Hafturlauben praktisch nie etwas passiert.
Die Tat war willkürlich, ein Motiv nicht vorhanden. Warum sollte Luis W. nicht ein zweites Mal grundlos töten?
Wenige Leute schaffen es, ein zweites Mal ein so schweres Delikt zu begehen. Mit der Zeit und dem Alter nimmt die kriminelle Energie ab, Menschen sind nicht mehr so impulsiv, sie ermüden. Altersmilde sozusagen. Bis ein Straftäter Hafturlaub erhält, müssen viele Voraussetzungen erfüllt werden – Vorstrafen, das Verhalten während der Haft, Gutachten, all das bestimmt die Entscheidung mit. Die Justizbehörde hat sicher begründet beschlossen, dass das Risiko, Luis W. Urlaub zu gewähren, eingegangen werden kann.
Dem «Hönggerberg-Mörder» wurde eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und dissozialen Merkmalen attestiert. Was lässt sich darüber sagen?
Beide Persönlichkeitsmerkmale zeugen von fehlender Empathie, von einer verzerrten Selbstwahrnehmung. Dissoziale Menschen sind unfähig, sich an Regeln zu halten, sehen sich als Nabel der Welt und andere Menschen als wertloser, gefallen sich nicht, sind unzufrieden mit sich selbst und überfordert mit dem eigenen Leben. Hier werden Grenzen sehr leicht überschritten. Vor allem, wenn jemand in eine narzisstische Krise gerät. Rein narzisstische Menschen können durchaus kultiviert sein, deshalb ist bei diesem Tötungsdelikt die Dissozialität sicher aussagekräftiger.
Man könnte argumentieren, «so einer» müsse lebenslänglich verwahrt werden.
Der Katalog von Delikten und Persönlichkeitsmerkmalen, die ein Mensch erfüllen muss, um lebenslänglich verwahrt werden zu können, geht sehr weit. Im ordentlichen Verfahren ist die Behandelbarkeit zwar nicht gegeben, aber die Chancen zur Besserung sind intakt.
Also ist eine dissoziale Störung therapierbar?
Die Therapie ändert nicht den Wesenskern des Menschen, aber es können soziale Kompetenzen aufgebaut werden. Damit wird die soziale Integration verbessert. Das geschieht durch reguläre Arbeit beispielsweise, eine Ausbildung, Wohnen in einem therapeutischen Milieu, gemeinsames Kochen und ein psychologisches Coaching, in dem der Täter lernt, über sich nachzudenken und zu realisieren, dass es noch andere Lebensentwürfe gibt.
Die narzisstischen Merkmale haben sich bei Luis W. offenbar verringert.
Das kann ich mir gut vorstellen. Im Gefängnis, wo alle gleich sind, die gleichen Kleider tragen, das gleiche essen und tun, gewöhnte sich Luis W. vielleicht daran, dass er nicht anders ist als alle anderen.
Ist es für die Angehörigen schwieriger oder einfacher, wenn der Täter das Opfer zufällig gewählt hat?
Unter dem Strich ist es sicher eine Erleichterung, dass der Fall geklärt, der Täter schuldig gesprochen und hinter Gittern ist.
Doch die Frage nach dem warum wird sich für die Angehörigen nie klären.
Ja, das macht die Tat so verstörend. Der Täter hatte keinen akzeptablen Grund für seinen Angriff, nichts, was menschlich noch einigermassen nachvollziehbar wäre. Das ist vergleichbar mit einem Mini-Amok.