Nur knapp ein Jahr, nachdem das Schweizer Stimmvolk die Idee abgeschmettert hat, erlebt die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ein Revival. Diesmal soll jedoch nicht die Bevölkerung im ganzen Land in den Genuss von Gratisgeld kommen, sondern nur die Stadtzürcher und Stadtzücherinnen.
Der Gemeinderat hat gestern knapp ein Postulat der SP-Fraktion angenommen, das einen Pilotversuch auf Stadtgebiet fordert. Der Stadtrat hat nun zwei Jahre Zeit, die Forderung zu prüfen. watson hat mit Urs Helfenstein, Mitglied der SP-Fraktion, über den erneuten Anlauf gesprochen.
Herr Helfenstein, ziehen bald alle Schweizer nach Zürich, weil sie hier ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten?
Urs Helfenstein: Nein, dazu wird es nicht kommen. Es handelt sich ja nur um einen Pilotversuch.
Wieso nimmt die SP-Fraktion, kurz nach der abgeschmetterten Initiative zum bedingungslosen Grundeinkommen, die Thematik wieder auf?
Die Einführung wurde schweizweit zwar abgelehnt, die Stadtzürcher Kreisen 4 und 5 haben der Vorlage aber zugestimmt. Nach der Abstimmung erhielt ich eine Mail, formuliert von Bewohnern aus den beiden Kreisen. Sie forderten einen Pilotversuch. Ich fand die Idee gut und habe sie aufgenommen.
Obwohl auch in Zürich die Nein-Stimmen zum Bedingungslosen Grundeinkommen überwogen. Ist das nicht Zwängerei?
Nein, es handelt sich nicht um eine Trotzreaktion. Wir wollen ja keine Einführung, sondern einen Feldversuch. Man kann nicht erwarten, dass dieser Versuch auf Kantons- oder gar Bundesebene durchgeführt wird. Auf städtischer Ebene ist es eher möglich. Zudem ist Zürich die grösste Stadt der Schweiz. Von allen künftigen Herausforderungen, wie beispielsweise der Digitalisierung, ist Zürich am meisten betroffen. Darum macht es Sinn, wenn das bedingungslose Grundeinkommen hier getestet wird.
Was erhoffen sie sich davon?
Zuallererst: Erkenntnis. Niemand weiss, was wirklich passieren würde, wenn das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt würde. Gegner und Befürworter tappen im Dunkeln – und politisieren mit Hoffnungen und Ängsten. Darum braucht es einen Pilotversuch.
Sollen wirklich alle ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten? Auch solche, die finanziell überhaupt nicht darauf angewiesen wären?
Ja, das bedingungslose Grundeinkommen ist keine Almose. Es betrifft absolut alle. Darum heisst es bedingungslos. Wir machen hier keine Klientelpolitik oder reichen einen Vorstoss ein, der einfach unseren Wählern gefällt. Das bedingungslose Grundeinkommen ist sozialistischer als jeder Sozialismus, kapitalistischer als jeder Kapitalismus.
Ist der Wunsch nach einem bedingungslosen Grundeinkommen auch eine Reaktion auf Ängste in der Gesellschaft?
Vor jeder industriellen Revolution hatte man Angst, dass Stellen verloren gehen. Jede Generation hatte ihre Ängste und Sorgen. Unsere wird beeinflusst von der Digitalisierung und der Angst, das viele Jobs verloren gehen. Die verschiedenen sozialen Versicherungssysteme sind in der Bevölkerung sicherlich akzeptiert, viele reichen aber bald nicht mehr aus. Das bedingungslose Grundeinkommen könnte eine Lösung für dieses Problem sein. Zudem könnte damit viel Bürokratie abgeschafft werden. Aber auch mit der Einführung heisst das noch lange nicht, dass man den Leuten dann nicht mehr helfen muss.
Wie soll ein solches Pilotprojekt überhaupt finanziert werden?
Dieser Punkt wurde auch im Gemeinderat kritisiert. Zu Recht, denn wir haben die Finanzierung nicht weiter ausgeführt. Ich habe das so begründet, dass wir das dem Stadtrat überlassen möchten. Auch hier müssen verschiedene Möglichkeiten geprüft werden. Beispielsweise profitieren sehr viele Firmen stark von der Digitalisierung, delegieren aber negative Auswirkungen davon an den Staat.
Firmen, die von der Digitalisierung profitieren, sollen also besteuert werden …
Ja, das wäre eine Möglichkeit. Ich verlange keine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder der allgemeinen Steuer. Das bedingungslosen Grundeinkommen sollte anderweitig finanziert werden können.
Bei der Initiative vom Juni wurde von einer Summe von 2’500 Franken geredet. Wie hoch wäre das bedingungslose Grundeinkommen in Zürich, wenn es zum Feldversuch kommt?
Es müsste mindestens auch so hoch sein. Würde der Feldversuch im Kanton Tessin oder Uri durchgeführt, wäre die Summe vielleicht tiefer. Aber in Zürich sind die Lebenshaltungskosten am höchsten, darum braucht es mindestens 2’500 Franken.
Der Stadtrat diskutiert nun über den Vorschlag. Glauben Sie, es kommt tatsächlich zu einem Feldversuch?
Ich mache mir keine Illusionen, dass viel passieren wird. Dennoch: Es war ein wichtiger und erster Schritt. Und wir werden auch in Zukunft am Thema dran bleiben, denn es ist wichtig. Das hat auch eine Umfrage des Instituts GFS Bern gezeigt: Nach der Abstimmung waren 62 Prozent aller Stimmberechtigten – unabhängig davon ob sie Ja oder Nein stimmten – der Meinung, dass auch in Zukunft über das bedingungslose Grundeinkommen diskutiert wird. Wir dürfen nicht die Angst verlieren, es zu testen. Nur so finden wir heraus, ob es funktionieren würde.
Was würden Sie persönlich mit 2’500 Franken monatlich anfangen?
Ich würde mein Pensum etwas reduzieren, dass ich mehr Zeit hätte, mich auf meine politische Arbeit zu konzentrieren. Aber aufhören zu arbeiten würde ich nicht. Ich würde mir einfach mehr Zeit für die Politik und andere Dinge nehmen.