Herr Hermann, diese Woche kam Bewegung in den Abstimmungskampf um die USR III. Alt-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf äusserte sich im «Blick» kritisch zur Vorlage. War das wirklich der «Gamechanger», als den er jetzt gehandelt wird?
Michael Hermann: Ob er das tatsächlich war, wissen wir erst im Nachhinein. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, dass je ein einzelnes Interview eine
Abstimmungsdebatte derart stark geprägt hat. Insofern ist es sicher ein Gamechanger. Widmer-Schlumpf hat die Frage nach der «Ausbalanciertheit» der Vorlage ins Spiel gebracht und die Richtigkeit der Berechnungen des Bundesrats über die zu erwartenden Steuerausfälle empfindlich in Zweifel ziehen können.
Ist es damit um die USR III geschehen?
Nein, das ist noch nicht gelaufen. Die Gegenseite – mit Ueli Maurer an der Spitze, der am Mittwoch seinerseits viel Platz im «Blick» erhielt – hat gut gekontert. Er konnte Eveline Widmer-Schlumpf teilweise in Frage stellen, weil er ins Feld führte, dass sie selber hinter verschiedenen Massnahmen stand, die sie jetzt kritisiert.
Trotzdem, Eveline Widmer-Schlumpf geniesst als langjährige Finanzministerin grosse Glaubwürdigkeit im Thema.
Das stimmt. Glaubwürdig sind aber auch die Kantonsregierungen, die klar hinter der
Vorlage stehen. Wenn die USR III allerdings abgelehnt wird, dann wird Widmer-Schlumpfs Interview
in die Geschichte eingehen, als eines mit der grössten Tragweite seit jeher. Das dürfte
dann eine Genugtuung für sie sein.
Die späte Rache der Eveline Widmer-Schlumpf?
Ja, dies könnte die späte Rache von Frau Widmer-Schlumpf sein. Man darf nicht vergessen, dass Widmer-Schlumpf nicht aus freien Stücken aus dem
Bundesrat zurückgetreten ist, sondern weil sie vom seit den Wahlen
dominierenden SVP-FDP-Block aus dem Amt
gedrängt wurde.
Auch die Amtszeit hat ihr die Rechte nicht unbedingt gemütlich gemacht.
Sie war auch immer eine starke Gegnerin – kompetent und
ungewöhnlich dossierfest. Das musste 2008 auch Christoph Blocher erfahren, als
er sich kurz nach seiner Abwahl als Bundesrat an ihr zu rächen versuchte mit
seinem Totaleinsatz für die SVP-Initiative «Einbürgerungen vor das Volk». Er
trat in der SRF-Sendung «Arena» gegen die neue Justizministerin an. Sie schlug ihn
empfindlich. Die Initiative schiffte daraufhin ab, obwohl die SVP so viel Geld
in die Kampagne steckte, wie noch nie bei einer Initiative.
Für die USR III muss sie das nicht, die Wirtschaftsverbände zahlen. Eine BAK-Basel-Studie im Auftrag von Economie Suisse prophezeit den Verlust von 200'000 Stellen und das aufgrund eines unrealistischen Worst-Case-Szenarios. Ist das okay in Abstimmungskämpfen?
So hat Propaganda schon immer funktioniert. Problematischer ist, wenn
Medien diese Propaganda einfach übernehmen. Ob es gute Propaganda ist, wage ich
dennoch zu bezweifeln. Es ist so offensichtlich übertrieben, dass es der
Glaubwürdigkeit schadet. Und Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Gut in diesem
Abstimmungskampf.
Es scheint, als ginge es bei der USR III beinahe nur noch um eine Glaubensfrage. Verstehen kann die Vorlage ja kein Normalsterblicher. Wie soll man da als Stimmbürgerin entscheiden?
Vertrauen gehört auch zur Demokratie. Tatsächlich müssen die Bürgerinnen und Bürger sich entscheiden, welcher Seite sie glauben wollen. Das Schöne in der Schweiz ist aber auch, dass Abstimmungen keine schwarz-weiss-Entscheide sind. Demokratie ist ein ständiger Prozess und es gibt immer Alternativen.
Obwohl die Befürworter der USR III uns glauben machen wollen, die Schweiz würde untergehen, wenn wir die Steuervergünstigungen jetzt nicht durchwinken.
Ja, den Befürwortern ist es erstaunlich gut gelungen, den Eindruck zu erwecken, es gäbe keine Alternative zu dieser Vorlage und die Sanktionen der EU und OECD würden schrecklich, wenn wir sie nicht jetzt sofort durchwinken. Widmer-Schlumpf hat nun allerdings geschickt
aufgezeigt, dass ein Nein nur der Start für eine neu ausbalancierte Vorlage
wäre.
Trotzdem, es scheint, als stünde die Welt Kopf: Die bürgerliche Politikerin Widmer-Schlumpf kritisiert die USR III, SP-Politikerin Eva Herzog verteidigt sie.
Natürlich erhalten genau solche Figuren besonders viel Beachtung. Durch
ihre Position erscheinen als besonders glaubwürdig und das ist bei dieser
komplizierten Vorlage eben noch wichtiger als sonst.