Schweiz
Interview

«Frau Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, würden Sie nochmals in den Zug steigen und in Bern die Wahl annehmen?»

Nationalratspräsidentin Markwalder verabschiedet Eveline Widmer-Schlumpf im Parlament.
Nationalratspräsidentin Markwalder verabschiedet Eveline Widmer-Schlumpf im Parlament.
Bild: KEYSTONE
Interview

«Frau Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, würden Sie nochmals in den Zug steigen und in Bern die Wahl annehmen?»

Die Bundesrätin verabschiedet sich aus Bern – ihre umstrittene Wahl hat sie längst abgehakt.
24.12.2015, 06:3124.12.2015, 06:50
Jonas Schmid / Aargauer Zeitung
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Frau Bundesrätin, bei Ihrer Verabschiedung im Parlament zollte Ihnen sogar die SVP Respekt. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Eveline Widmer-Schlumpf: Es ist wohl ein Zeichen der Anerkennung dafür, dass ich mich bemüht habe und meine Arbeit in den letzten acht Jahren gut gemacht habe. Ein Dankeschön, unabhängig davon, ob man mit meiner Person oder meiner Politik einverstanden ist. 

Sie sprachen in Ihrer Abschiedsrede über die Gewaltenteilung. Wieso?
Gerade jetzt bei der Durchsetzungsinitiative hört man immer wieder: Das Volk steht über allem und kann entscheiden, was es will. Dem ist nicht so: Das Volk hat einen grossen Machtbereich. Daneben haben aber auch das Parlament, die Regierung und die Gerichte klare Kompetenzen. Diese Gewaltenteilung stellt sicher, dass es nicht zu einem Missbrauch der Macht kommt, auch nicht durch das Schüren von Stimmungen. Diese Checks and Balances sind in der Bundesverfassung eingebaut.

Dennoch kommt die Durchsetzungsinitiative vors Volk. Ist das ein Systemfehler?
Nein. Um eine Initiative für ungültig zu erklären, braucht es sehr viel. Stattdessen appelliere ich an die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zu überlegen, was das Ja zu einer solchen Initiative bedeuten würde. Wir müssen uns bewusst sein, dass das mit unserer Demokratie und unserem Rechtsstaat nicht vereinbar ist. Und was das Völkerrecht betrifft: für uns als Kleinstaat wäre es schlecht, wenn sich andere Staaten nicht mehr daran halten würden. Es ist mir bewusst, dass es viel schwieriger ist, dem Volk zu erklären, warum es ein Nein in die Urne legen soll, als für ein Ja zu weibeln.

Wie war die Arbeit im Bundesrat?
Im Bundesrat schenkt man sich nichts. Die Diskussionen werden gelegentlich hart, aber korrekt geführt. Wir haben uns meist gefunden auf einem für alle akzeptablen Weg. Häufig wird gesagt, dass die Entscheide im Bundesrat knapp ausfallen. Das ist äusserst selten der Fall. Wir haben oft einfach diskutiert, bis wir zu einer Lösung gelangten, hinter der alle stehen konnten. In den letzten acht Jahren haben die Bundesräte kaum einmal eine divergierende Meinung gegen aussen vertreten.

Und Sie standen immer auf der Siegerseite?
Nein. Simonetta Sommaruga sagte anlässlich meiner Verabschiedung im Bundesrat, dass ich manchmal auch unzufrieden war. Ja, im Bundesrat ist nicht immer Friede, Freude. Wir haben uns mit den Geschäften intensiv auseinandergesetzt. Schliesslich muss man nachher auch gegenüber seinen Mitarbeitenden hinstehen und erklären, warum Geschäfte noch abgeändert werden. Das gilt nicht nur für die Finanzen. Als Finanzministerin schaute ich in alle Bereiche hinein und versuchte mitzusteuern. Daher meine regelmässigen Mitberichte, die meine Kollegen wohl am liebsten verbrannt hätten (lacht).

Waren Sie als Finanzministerin also mehr als ein Siebtel des Bundesrats?
Es ist ein sehr interessantes Departement, weil Sie sich gezwungenermassen mit allem befassen müssen. Die Finanzministerin ist auch gefragt als Weiterentwicklerin. Etwa für die Reform der Altersvorsorge habe ich im finanziellen Teil eng mit Innenminister Alain Berset zusammengearbeitet.

Sie gelten als knallharte Chefin, die ihre Mitarbeitenden gerne in die Wüste schickt ...
Das stimmt nicht. In den letzten acht Jahren trennte ich mich von drei Mitarbeitenden.

Der neue Finanzminister Ueli Maurer bekommt die Schlüssel zu seinem Departement.
Der neue Finanzminister Ueli Maurer bekommt die Schlüssel zu seinem Departement.
Bild: POOL KEYSTONE

Nun übergeben Sie den Schlüssel Ueli Maurer. Fällt Ihnen das leicht?
Er sagte, es sei für ihn ein Wunschdepartement. Er wird sich bemühen, die aufgegleisten Projekte voranzutreiben. Die meisten Mitarbeitenden bleiben. Daher bin ich zuversichtlich, dass Bundesrat Maurer die Geschäfte abschliessen kann.

Dennoch: Reicht es, Finanzminister zu werden, wenn man «Lust» dazu hat?
Wir haben ein System, in dem jedes Bundesratsmitglied in der Lage sein muss, jedes Departement zu übernehmen.

Sie gelten als spröde Krampferin, die sich Tag und Nacht in Dossiers vergräbt. Haben Sie auch eine andere Seite?
Ich bin Handörgelerin und engagiere mich in verschiedenen Frauenorganisationen. Hier kann ich auftanken. Das war für mich sehr wichtig. Ich bin froh, dass ich da nicht von den Medien begleitet wurde. Die Frauen von Alliance F, und viele Frauen wie Rosmarie Zapfl, Judith Stamm, Cécile Bühlmann, Monika Weber und Joy Matter haben mich getragen. Ich fühlte mich nie alleine.

Jetzt sagten sie, Ihr Rücktritt sei gut für die BDP. Die Partei will aber, dass Sie sich weiter engagieren. Stehen Sie zur Verfügung?
Ich bin BDP-Mitglied in Graubünden und Bern. Ich werde mich weiter für die Partei engagieren, aber kein Amt übernehmen.

Ihr Sohn ist jetzt sogar Gemeinderat ihrer Heimatgemeinde Felsberg.
Das ist er, ja. Aber ohne Hilfe der Mutter.

Blöd, dass Ihnen das niemand glaubt.
Natürlich nicht, nein. Es passt ja nicht ins Bild, das «man» sich macht.

Sie hätten es einfacher und ruhiger gehabt, wenn Sie in Graubünden geblieben wären. Und die BDP würde wohl heute noch SVP heissen.
Sind Sie sicher? Die Konflikte mit der SVP Graubünden, wie sie heute ist, gab es ja schon damals, auch mit der SVP Schweiz. In der UNO-Abstimmung etwa waren wir anderer Meinung, auch bei den Blauhelm-Einsätzen. Als sich die Bündner Demokraten 1971 mit der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) zur SVP Schweiz zusammenschlossen, waren unterschiedliche Haltungen in einzelnen Sachfragen akzeptiert. Das änderte sich dann aber mehr und mehr. Die SVP war nicht mehr die Partei, die sie zuvor war.

Im Rückblick ist es immer leicht zu sagen, man habe dies und jenes kommen sehen. Haben Sie die Trennung kommen sehen?
Als ich die Wahl in den Bundesrat angenommen habe, dachte ich wirklich, ich könne den liberalen Flügel in der SVP stärken.

Dann schrieben Sie mit Ihrer Wahl Geschichte. Am Morgen stiegen Sie als Bündner Regierungsrätin in den Zug, am Abend galten Sie schweizweit in gewissen Kreisen als Verräterin.
Darüber wurde in den Medien derart häufig geschrieben, dass es die Leute irgendwann tatsächlich glaubten.

Sie auch?
Nein, ich wusste ja, wie es wirklich war.

Wenn Sie jemand Verräterin nennt, nehmen Sie das wohl hin. Wenn das 30 Prozent der Schweizer tun, nämlich die SVP-Wähler, ist das etwas anderes?
Nein. Und es sind ja auch nur 30 Prozent von jenen, die wählen gehen. Abgesehen davon: Es macht sehr betroffen, wenn man als Lügnerin bezeichnet wird. Aber ich habe gelernt, diese Vorwürfe stehen zu lassen.

Kann man das?
Ich habe es gelernt, ja. Vielleicht wirke ich deshalb eben spröde, wie Sie sagten. Das ist mein Selbstschutz. Als ich zum ersten Mal für die Bündner Regierung kandidierte, und Angst hatte vor jedem öffentlichen Auftritt, sagte mir ein Kollege und Parteifreund, ich müsse mich zuerst imprägnieren, sonst würde ich nie zu einer guten Politikerin werden. Das habe ich gemacht. Ich hatte als Bundesrätin den Anspruch, eine gute Arbeit zu machen. Und das konnte ich nur tun, indem ich mir einen Schutz zulegte.

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Kann man sich gegen offenen politischen Hass imprägnieren?
Man kann es nicht ändern. Das ist meine Stärke: Ich bin relativ gelassen und habe einen Sinn für die Realität.

Hatten Sie nie Angst?
Angst kenne ich eigentlich nicht. Aber ich habe meine Familie gut abgeschirmt.

Im Dezember 2007 nahm EWS die Wahl in den Bundesrat an.
Im Dezember 2007 nahm EWS die Wahl in den Bundesrat an.
Bild: RUBEN SPRICH/REUTERS

Gibt es denn auch in Ihrem Umfeld Freunde oder Bekannte, die sich von Ihnen abgewandt haben?
Ich habe immer noch die gleichen Freunde, Kollegen und Bekannten wie vor 20 Jahren. Da hat sich nichts geändert. Das ist das Schöne daran, und es ist natürlich ein Zeichen, dass ich mich nicht sehr stark verändert habe in den letzten acht Jahren.

Würden Sie an jenem 12. Dezember 2007 nochmals in den Zug steigen und in Bern die Wahl annehmen?
Ich habe mich noch nie in meinem Leben gefragt, was wäre, wenn ich dieses oder jenes anders gemacht hätte. Diese Frage ist letztlich sinnlos, sie kostet nur Energie und Zeit und lässt vergessen, dass das Leben vorwärtsgeht und nicht zurück.

Jetzt auf

Als Sie Ihren Rücktritt bekannt gaben, sagten Sie präventiv, Sie wollten nicht über Ihre Zukunft reden. Frau Widmer-Schlumpf, was machen Sie jetzt?
Mir wird es sicher nicht langweilig und ich falle auch nicht in ein Loch. Ich habe verschiedene Anfragen erhalten, brauche jetzt aber mindestens ein halbes Jahr Zeit für mich. Ich will mir zuerst überlegen, was ich in der Familie tun möchte und tun kann. (aargauerzeitung.ch)

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