Schweiz
Interview

Beat Zemp erklärt, warum es immer mehr Sonderschüler gibt

Durch das Modell der inklusiven Schule werden Sonderschüler in den normalen Regelunterricht integriert.
Durch das Modell der inklusiven Schule werden Sonderschüler in den normalen Regelunterricht integriert.
Bild: KEYSTONE
Interview

Lehrerpräsident Zemp: «Die Schulen stempeln Kinder als Sonderschüler ab, um mehr Unterstützung zu bekommen»

Die Zahl der Sonderschüler hat sich laut der Bildungsdirektion in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt. Lehrerverbands-Präsident Beat Zemp erklärt, warum man diese Statistiken mit Vorsicht geniessen muss und warum die Lehrer an vielen Stellen völlig überfordert sind.
22.10.2015, 13:3725.10.2015, 10:15
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Die Zahl der Sonderschüler ist gemäss der Sonntags Zeitung in den letzten Jahren massiv gestiegen. Wie wird ein «Sonderschüler» überhaupt definiert?
Das ist eine gute Frage. Die Erziehungsdirektorenkonferenz hat überhaupt erst vor Kurzem ein standardisiertes Abklärungsverfahren ins Leben gerufen und zwar genau deswegen, weil es so grosse Unterschiede zwischen den Kantonen gibt. Es geht jetzt darum, dass alle Kantone dieses Verfahren in der Praxis anwenden, wenn es gilt, einen Sonderschüler zu identifizieren. Bisher ist diese Bestimmung in der Schweiz sehr uneinheitlich abgelaufen, aber nun wird dieses neue Instrument zunehmend genutzt.

Ab wann ist ein Schüler nach diesem standardisierten Verfahren ein Sonderschüler?
Wenn beispielsweise eine schwere Dyskalkulie oder eine Legasthenie festgestellt wird. Trisomie – also das Down-Syndrom – ist auch ein Faktor oder ein sehr niedriger IQ, der nicht der normalen Entwicklung entspricht. Ausserdem gibt es spezielle soziale Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die festgestellt werden können. Am Ende ist es aber immer eine Einzelabwägung. Man muss sich immer fragen: Wo wird der Strich gezogen? Und bisher ist es eben so, dass ein Schüler in einem Kanton als Sonderschüler eingestuft würde und in einem anderen vielleicht nicht.

Beat Zemp, Präsident des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH).
Beat Zemp, Präsident des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH).
Bild: zvg

Wenn heute ein anderes Instrument genutzt wird als früher, wie können denn dann die Zahlen von vor zehn Jahren überhaupt mit jenen von heute verglichen werden?
Hinter solche Vergleiche stelle ich grosse Fragezeichen. Früher gab es ja beispielsweise noch die Zwischenkategorie der Kleinklassen, also Klassen, in denen nur sechs bis zehn Schüler gesondert unterrichtet wurden – diese Kategorie gibt es in den meisten Kantonen nicht mehr. Dadurch, dass diese Kleinklassen abgeschafft worden sind und die meisten der betroffenen Schüler in die Regelklassen integriert wurden, steigt in der Statistik automatisch die Zahl der sogenannten «integrierten Sonderschüler».

Das heisst, die Schüler in den Kleinklassen galten damals nicht als Sonderschüler, werden heute aber dazu gezählt.
Genau. Ein Schulpsychologe hat früher gesagt: «Das ist ein typischer Kleinklassenschüler, der braucht in diesem und jenem Bereich besondere Unterstützung» und dann ging das Kind eben in die Kleinklasse. Und zwar in vielen Fällen ohne dass es eine formelle Diagnose «Sonderschüler» bekam, sondern einfach, weil man wusste, dass das Kind in einer Kleinklasse besser gefördert werden konnte.

Und heute?
Heute heisst es einfach nur noch Sonderschüler oder nicht – und falls ja, wird entschieden, ob das Kind in der Regelschule integriert werden kann, oder ob es separiert werden und eine Sonderschule besuchen muss. Die Zwischenform der Kleinklasse von damals gibt es kaum noch. Wenn sich ein System so stark verändert und die Begrifflichkeiten derart uneinheitlich sind, macht es wenig Sinn, Zahlen miteinander zu vergleichen. Man sollte diese Statistiken daher mit grosser Vorsicht zur Kenntnis nehmen.

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«Die Lehrpersonen erhoffen sich mehr Ressourcen, wenn sie derart viele ‹Problemfälle› integrieren müssen.»

Die Kosten sind aber definitiv gestiegen.
Das ist so. Bei der Integration von Sonderschülern handelt es sich sicher nicht um eine Billiglösung. Ebenfalls klar ist, dass das Regelsystem ohne genügend finanzielle Unterstützung damit total überfordert ist. Daher benötigen die Lehrpersonen natürlich auch mehr Ressourcen, wenn sie derart viele «Problemfälle» integrieren müssen.

Werden diese Zahlen auch zukünftig noch steigen?
Die Kantone geben jetzt Gegensteuer, damit kein Automatismus entsteht. Das Standardisierte Abklärungsverfahren soll dann auch dafür sorgen, dass in der Schweiz eine gewisse Gleichbehandlung garantiert ist. Und so erhoffe ich mir dann schon eine Stabilisierung der Situation.

Mit Automatismus meinen Sie: Wenn eine Schule mehr Kinder als Sonderschüler abstempelt, bekommt sie auch mehr Geld zur Verfügung gestellt.
Ja, genau. Und das ist irgendwo auch verständlich, dass die Lehrpersonen dies tun. Sie müssen mal mit jemandem sprechen, der drei oder vier verhaltensauffällige Schüler in seiner Klasse hat und dann vielleicht noch zwei oder drei Schülerinnen mit Behinderung. Das ist fast nicht zu leisten.

Werden die angehenden Lehrer entsprechend darauf vorbereitet?
An der Pädagogischen Hochschule gibt es natürlich ein Ausbildungsmodul Integration/Sonderpädagogik, weil es heute ein gesetzlich verbrieftes Recht ist, dass Eltern ihre Kinder in einer Regelschule einschulen lassen können – sofern es irgendwie machbar ist.

Dieses Modul ist aber erst in den letzten Jahren dazu gekommen?
Das ist so, weil die inklusive Schule erst seit einigen Jahren umgesetzt wird.

Ein Grossteil des heute tätigen Lehrpersonals ist also nie in den Genuss gekommen, entsprechend ausgebildet zu werden.
Ja, das bestehende Personal müsste nachgeschult werden und da hapert es, weil die entsprechenden Ressourcen nicht zur Verfügung stehen.

«Wenn nicht genügend Personal da ist, sollte man die Finger von der Integration lassen.»

Das Motto lautet also «learning by doing»?
Ja, es wird einfach mal integriert und man erhofft sich, dass die Lehrpersonen die nötigen Erkenntnisse gewinnen und sich auch entsprechend Hilfe holen. Die Idee ist ja, dass eine sonderpädagogisch ausgebildete Person zum Klassenlehrer dazu kommt. Leider ist der Fachkräftemangel in diesem Bereich immens. Und deswegen sollte man die Finger von der Integration lassen, wenn nicht genügend sonderpädagogisches Personal da ist – denn das kann sonst nur danebengehen.

Die Integration von Sonderschülern wird nun also seit ein paar Jahren vorangetrieben. Wie fällt Ihr momentanes Zwischenzeugnis zu diesem Thema aus?
Der Start ist harzig, wir sind noch lange nicht am Ziel und wir brauchen vor allem mehr sonderpädagogisch ausgebildetes Personal. Und das Ziel muss sein: So viel Integration wie möglich, aber auch so viel Separation wie nötig. Letztlich muss das Wohl des Kindes im Vordergrund stehen. Leute, die denken, man könne alle Kinder in die Regelschule integrieren, sind auf dem falschen Weg.

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