Die Burka ist überall: Diesen Eindruck mag gewinnen, wer die mediale und politische Debatte in der Schweiz mitverfolgt. In fast 2000 Artikeln tauchte der Ganzkörperschleier dieses Jahr auf. Nun gab auch der Bundesrat seine Position zur Burka-Initiative bekannt: Er lehnt ein Verhüllungsverbot in der Verfassung ab, räumt aber ein, «dass die Gesichtsverhüllung zu Problemen führen kann». Mit Massnahmen auf Gesetzesstufe will er reagieren.
Was mitten in der emotionalen Debatte kaum vorstellbar scheint: Noch vor wenigen Jahren war «Burka» in den hiesigen Zeitungen noch praktisch ein Fremdwort, wie eine watson-Auswertung der Schweizer Mediendatenbank zeigt.
Gerade einmal zwei Einträge zum Thema spuckt die Datenbank für das Jahr 1997 aus. Nachdem die radikal-islamische Taliban-Bewegung die afghanische Hauptstadt Kabul erobert hatte, berichtete die Nachrichtenagentur SDA, dass die Frauen in der Stadt nun Burka tragen müssten («ein Gewand, in das nur ein Sehschlitz eingearbeitet ist»). Mit dieser Information versorgte auch das «Basler Zeitung Magazin» seine Leser, als es in der Rubrik «Im Blickpunkt» eine Fotografie aus den «Trümmern von Kabul» zeigte. Damit war der Fundus an Burka-Artikeln für dieses Jahr dann auch schon erschöpft.
Bis zur Jahrtausendwende dümpelte die Burka-Berichterstattung im selben Stil vor sich hin. Eine Meldung zu den Taliban hier, eine etwas längere Reportage dort. Bis die Anschläge von 9/11 die Welt für immer veränderten: Nach der US-Intervention in Afghanistan im Herbst 2001 richteten sich alle Augen auf das Land am Hindukusch. Und auf seine Frauen, die in diesen dichten, hellblauen Gewändern steckten.
Die Burka blieb in der Schweizer Wahrnehmung also ein Merkmal ferner Länder und fremder Kulturen – bis 2004 die belgische Stadt Antwerpen die Ganzkörperverhüllung unter Strafe stellte. Ein solcher Entscheid will von allen Seiten beleuchtet sein. So versuchte sich eine belgische Journalistin etwa in einer Disziplin, die sich später auch in den Schweizer Medien einer gewissen Beliebtheit erfreuen sollte: dem Burka-Selbstversuch. Die Polizei führte die verhüllte Reporterin ab. Auch diese Meldung schaffte es via Nachrichtenagentur bis in die Schweizer Medien.
Nach Belgien schlugen auch die holländischen Behörden eine härtere Gangart im Umgang mit Burkaträgerinnen an – und strichen uneinsichtigen Musliminnen die Arbeitslosengelder. Da wollten Schweizer Politiker ebenfalls nicht länger untätig bleiben: Der Walliser Christophe Darbellay, damals frischgebackener CVP-Präsident, reichte im Dezember 2006 eine Interpellation mit dem Titel «Tragen von Burkas» ein. Darin wollte er vom Bundesrat wissen, ob er gedenke, «ähnliche Massnahmen wie in Holland und Belgien zu ergreifen» und ob er bereit sei, «bei verstärktem Auftreten von Burkas entsprechende Sanktionen zu ergreifen».
Spätestens 2009 gab es dann kein Entkommen mehr: Im Kampf für ein Minarett-Verbot setzte das SVP-nahe «Egerkinger Komitee» auf ein Sujet, das in den darauf folgenden Jahren immer wieder von den Plakatwänden starren sollte: Eine grimmige Frau in Ganzkörperschleier. Mit nachhaltiger Wirkung: Die Zahl der Burka-Nennungen in den Schweizer Medien schnellte innert eines Jahres von 191 auf 920 hoch. Und Volk und Stände hiessen das Minarett-Verbot mit deutlicher Mehrheit gut.
Angesichts des grossen Erfolgs kam das Motiv später auch bei weiteren Abstimmungen zum Einsatz, etwa im Kampf gegen die erleichterte Einbürgerung.
Nach der historischen Minarett-Abstimmung wurden die Rufe nach einem Verhüllungsverbot in der Schweiz lauter. In verschiedenen Kantonen lancierten rechtsnationale Kreise entsprechende Forderungen. Im September 2013 stimmte das Tessin als erster Kanton einem Verbot zu.
Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Burka-Hype in den Schweizer Medien 2016: Nach knapp dreijähriger Umsetzungsfrist trat im Sommer das Tessiner Verhüllungsverbot in Kraft. Und das Egerkinger Komitee lancierte die bereits angekündigte nationale Burka-Initiative. Sie verlangt, dass im gesamten öffentlichen Raum niemand mehr sein Gesicht verhüllen darf.
Ein entsprechendes Anti-Verhüllungs-Gesetz trat in Österreich dieses Jahr in Kraft – und provozierte einigen Spott. Neben Burkaträgerinnen bekommen nämlich auch Clowns und winterlich angezogene Velofahrer die harte Hand des Gesetzes zu spüren.
In der Schweiz gelang es dem Egerkinger Komitee im September, die nötigen Unterschriften einzureichen. Im Oktober bestätigte die Bundeskanzlei, das Begehren sei formell zustandegekommen.
Sofort brachten sich die anderen Akteure in Stellung: Während die CVP am liebsten noch weiter gehen möchte und via «SonntagsZeitung» ein Kopftuchverbot an Schulen fordert, pocht die SP auf einen Gegenvorschlag: Dank einer Ausweitung des Gleichstellungsartikels soll die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen beseitigt werden, so die Idee.
Natürlich meinen die meisten Politiker, Journalisten und anderen Akteure, die über die «Burka» sprechen, eigentlich gar nicht die Burka. Denn dieses meist hellblaue Gewand ist primär in Afghanistan und in Teilen Pakistans verbreitet – charakteristisch ist das Gitter im Augenbereich. Was die Frau auf dem Minarett-Plakat trägt, ist ein «Niqab». Ein schwarzer Schleier, der vor allem in Saudi-Arabien und im Jemen, aber auch im Irak, in Syrien, Jordanien und in nordafrikanischen Ländern getragen wird.
Der Begriff «Niqab» kam in den Schweizer Medien zwischen 1997 und 2003 gar nie vor – auch nicht in der alternativen Schreibweise «Nikab». Doch je mehr über die Burka berichtet wird, desto mehr Aufmerksamkeit wird auch artverwandten Umhängen zuteil. Mit 646 respektive 568 Erwähnungen erreichte die Medienkarriere der Schwester der Burka in den vergangenen zwei Jahren ihren vorläufigen Höhepunkt.