Vielleicht wird Adi Achermann bald den Stellenanzeiger durchforsten müssen. Wenn am Dienstag in einer Woche das Urteil des Bezirksgerichts Kriens vorliegt und das Dreiergremium den Luzerner Polizeikommandanten der fahrlässigen Tötung für schuldig befinden und Achermann rechtskräftig verurteilen sollte, kann sich Achermann, der höchste Polizist des Kantons, kaum auf seinem Posten halten. Dabei hat Achermann, in Uniform gezwängter Jurist, eigentlich nicht viel falsch gemacht. Er war bloss zur falschen Zeit am falschen Ort.
Malters, 7000-Seelen-Gemeinde, 10 Kilometer von Luzern entfernt, neun Minuten mit dem Regiozug oder 12 Minuten mit der S6, immer der Kleinen Emme entlang. Hier, in einem kleinen Weiler etwas ausserhalb des Dorfkerns, lebte Ursula R.
Es darf angenommen werden, dass Ursula R. keine einfache Person war. Verbeiständet, bevormundet, 2003 stationärer Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Königsfeld, und immer diese panische Angst, eines Tages erneut in der Psychiatrie zu landen.
Als Einheiten der Kapo Luzern an diesem Mittwoch im März vor einem Jahr an ihre Tür klopfen, weil sie Hinweise haben, dass ihr Sohn im oberen Stock der Wohnung eine Hanfplantage unterhält, ist sie wieder da, die Angst. R. droht den Polizisten, sagt, dass sie sich umbringen werde und die Polizisten auch, greift zum Revolver, Smith & Wesson, Kaliber 357, stellt sich ans Fenster, und gibt, um ihren Drohungen Nachdruck zu verleihen, einen Schuss ab in den Vorabendhimmel von Malters.
Bei der Luzerner Polizei werden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Das Gebiet wird weiträumig abgesperrt, ein Verhandlungsteam aufgeboten, die Sondereinheit Luchs hinzugezogen. Nach 17 Stunden, am Mittag des 9. März, greifen die Polizisten zu. Spezialkräfte machen sich an der Eingangstüre des Hauses zu schaffen. Dann ertönen zwei Schüsse. R. erschiesst ihre Katze, dann richtet sich die Waffe im Badezimmer auf sich selber.
Adi Achermann, der an diesem Morgen auf den Platz kam, weil er als höchster Polizist «für die Medienarbeit besorgt ist», gibt sein Placet für den Zugriff. Obwohl er das gar nicht tun müsste. Einsatzleiter ist Kripo-Chef Daniel Bussmann, der andere Angeklagte, der sich an diesem Montagmorgen im Gerichtssaal des Kantonsgericht Luzern verantworten muss.
Bussmanns massiger Körper füllt den geschwungenen Holzstuhl in dem austauschbaren Raum des Kantonsgerichts. Die kleinen, eng aneinanderliegenden Äuglein nehmen prüfend den Saal ab. Wenn er spricht, dann im Brustton der Überzeugung, die Wortenden verschwinden im buschigen Schnauz. Bussmann Daniel, Kripo-Chef. «Da isch eso.» 90 und ein paar Kilo fleischgewordene Selbstsicherheit.
Neben Bussmann baumeln die kurzen Beine seines Anwalts wenige Zentimeter über den Spannteppich. Strafverteidiger Beat Hess lässt in seinem Plädoyer an der Anklageschrift des ausserordentlichen Staatsanwaltes kein gutes Haar. «Vorwürfe», «bösartige Unterstellungen», «Vermutungen» und «Behauptungen, die einfach mal in den Raum gestellt werden», durchziehen laut Hess die Anklageschrift. Sein Mandant aber habe sich nichts zuschulden kommen lassen, es sei «unbestritten, dass er innerhalb seiner Kompetenzen gehandelt» habe. Bussmann habe als Einsatzleiter alle Alternativen geprüft, nach 17 Stunden Verhandlung sei aber klar geworden, dass man sich in einer «Endlosschlaufe» befinde. Und mit Frau R. mit der Smith & Wesson bestand weiterhin die Möglichkeit, einen Schädel über die Distanz von 1000 Metern zu durchschlagen. Die Folge? Intervention.
Der Plan war, mit einer hydraulischen Presse die Tür aufzustemmen, dann sollte an der Rückseite des Hauses ein Ablenkungsfeuerwerk gezündet werden, R. ist visuell abgelenkt, in der Zwischenzeit stürmt ein ausgebildeter Hund die Wohnung und macht R. kampfunfähig.
Aber Pläne sind nur so gut wie das Material, mit dem sie umgesetzt werden sollen. Oder, wie der Vertreter der Privatklägerschaft, Oskar Gysler, sagt: «Nur in Hollywood verlaufen komplexe Polizeieinsätze nach Plan.» Der Schwachpunkt, das «Malheur» (Staatsanwalt Rüedi) war, dass der Türrahmen nach Anbringen der Presse barst, viel zu früh, und R. dadurch aufschreckte, sich ins Badezimmer begab und den Abzug betätigte.
Für die Verteidigung handelte es sich um ein Ereignis, das sich nicht vorhersehen liess und mit dem man folglich auch nicht rechnen musste. Ein Nullrisiko gebe es bei so einem Einsatz nicht, betonte Anwalt Hess. Tatsache sei, so Anwalt Merz, Verteidiger des Beschuldigten Achermann, dass sich Frau R. mit dem Revolver selbst gerichtet hat. Überhaupt sei die Anklage den Beweis schuldig geblieben, dass Frau R. an Schizophrenie litt, einen psychotischen Schub erlitt, nicht urteilsfähig war. Tatsachenbehauptungen, Aktenwidrigkeiten.
Die Selbsttötung ist nach geltendem Schweizer Recht nicht strafbar. Solange sie eigenverantwortlich erfolgt, die suizidwillige Person also urteilsfähig ist. Für die Anklage steht fest: Frau R. litt an paranoider Schizophrenie, hinzu kam ein psychotischer Schub, den sie am 8. März erlitt. Und: Bussmann wusste von den psychischen Erkrankungen und den sich daraus ergebenden Risiken. Die Verteidigung lehnt diese Ansichten rundweg ab. Das Problem: Frau R. lebt nicht mehr und den Antrag auf ein rechtspsychologisches Gutachten wies das Gericht schon im Vorfeld ab.
Die Verteidigung stellt sich auf den Standpunkt, dass es der Sohn war, der die Frau mit einer Waffe und Munition ausgestattet und sie vor der KESB versteckt hatte, er sei so zumindest indirekt verantwortlich für ihren Tod.
Für Bussmann und Achermann ist die Gerichtsverhandlung ein Heimspiel. Man kennt sich hier, am Hirschengraben 16 in der Luzerner Innenstadt. In der Verhandlungspause klopft man sich gegenseitig auf die Schulter, klopft Sprüche, «die Hitze, es läuft runter wie ein Sturzbach», «brillanter Vortrag», «darf ich mich vorstellen?».
Im Saal herrscht derweil eine flirrende Hitze, die bodenlangen weissen Vorhänge ziehen erstarrte Wellenlinien. Kein Lufthauch dringt in den Raum. Achermann, der gleich neben dem Fenster sitzt, wirkt abwesend, wenn der Staatsanwalt redet, dreht sich der Oberkörper des Polizei-Chefs fast unmerklich, die Augen folgen der Fluchtlinie der scharf geschnittenen Nase, nach draussen, in den Hof, wo aus einem Zimmer der Pfarrei St.Maria sanfte Klavierklänge ertönen. Bussmann hat sich derweil der Schwerkraft ergeben. Sein Körper ist vornübergebeugt, die Unterarme stützend auf dem Tisch, als ob er so ein bisschen näher an die Entscheidung des Gerichts rücken könnte.
Auch die anderen Verhandlungsteilnehmer zollen der Hitze Tribut. Jackets werden abgelegt, Taschentücher wischen über glänzende Stirnen und feuchte Handballen, die Haare des Gerichtspräsidenten stehen wirr in alle Richtungen, die gepolsterten Sitz- und Rückenflächen, ordonnanzgrün, verschmelzen mit Rücken und Gesäss.
Am Dienstagvormittag in einer Woche verkündet das Gericht sein Urteil. Sollte es tatsächlich zu einem Schuldspruch kommen, wird sich Polizeikommandant Achermann in eine lange Luzerner Tradition einfügen. In den letzten 15 Jahren trat kein Luzerner Polizeichef freiwillig zurück. Achermanns Vorgänger, Beat Hensler, musste 2013 seinen Schreibtisch räumen, Pius Segmüller überwarf sich 2006 mit seiner politischen Chefin, und Segmüllers Vorgänger Kurt Fehlmann wiederum schied 2001 vorzeitig aus dem Amt aus.
Es lohnt sich vielleicht, den Stellenanzeiger aufzuschlagen. Die Kapo Basel-Stadt sucht gerade einen neuen Chef.