War das jetzt ein Politschwank? Oder hat die Schweiz gerade eine veritable Staatskrise abgewendet? Man kann es beurteilen, wie man will. Doch was die Schweiz in der letzten Woche erlebt hat, war ein spezieller Vorgang in der bald 175-jährigen Geschichte des Bundesstaats: Einige bürgerliche Nationalräte wollten den Bundesrat entmachten.
Mit knapper Mehrheit drückten sie in der Gesundheits- (!) und der Wirtschaftskommission einen Antrag durch, die praktisch vollständige Aufhebung des Corona-Lockdowns am 22. März im Covid-19-Gesetz vorzuschreiben. Zwar war eine «Notbremse» für den Bundesrat vorgesehen, doch faktisch hätte er ungeachtet der epidemiologischen Lage öffnen müssen.
Viel erreicht haben die Bürgerlichen nicht. Ihr Aufstand gegen die «Diktatur» von Gesundheitsminister Alain Berset fiel diese Woche kläglich in sich zusammen. Denn der Ständerat wurde seinem Ruf als Chambre de Réflexion wieder einmal gerecht. Er wollte auf den «parlamentarischen Amoklauf» der Nationalräte gar nicht eintreten.
Der Freiburger Ständerat Christian Levrat (SP) bezeichnete den Öffnungsantrag als verfassungswidrig. In der Debatte über das Covid-Gesetz am Donnerstag blieb es bei einer «Chropfleerete». Der Nationalrat wird am Montag nachziehen und vielleicht aus Trotz den Antrag durchwinken, am Ende aber wird sich die kleine Kammer durchsetzen.
Das Muskelspiel des Nationalrats wird sich auf die Mittwoch angenommene Erklärung beschränken, die den Bundesrat zu Lockerungen am 22. März auffordert. Sie ist rein symbolisch und nicht bindend. Den «Maulkorb» für die Science-Taskforce hat die Wirtschaftskommission bereits relativiert, doch die ursprüngliche Forderung zeigt eine bedenkliche Einstellung.
Die Bürgerlichen mochten dies wortreich bestreiten, doch letztlich ging es ihnen genau darum: Die Taskforce sollte ihre unbequemen Fakten nicht mehr offiziell verbreiten. Sie geht damit vielen auf die Nerven, doch hätte man im letzten Sommer auf die Warnungen der Taskforce gehört, wäre die Schweiz wohl nicht so blind in die zweite Welle geschlittert.
In ihren Sonntagsreden beschwören gerade Bürgerliche gerne die Bildung als einzigen Rohstoff der Schweiz. In dieser Krise aber ist die Meinung der Wissenschaft unerwünscht. Dem Bildungs- und Forschungsstandort Schweiz droht damit ein beträchtlicher Schaden. Doch zu so viel Weitsicht scheint unser Parlament nicht fähig zu sein.
Was steckt hinter solchen Harakiri-Ideen? Der Frust über den Bundesrat allein ist es nicht. Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Bürgerlichen ein offenes Ohr haben für die Anliegen der Wirtschaft. Deren Klagelied ist laut und unüberhörbar. Das ist verständlich, doch Sars-Cov-2 lässt sich nicht per Gesetz aus dem Land spedieren oder am Mutieren hindern.
Womit wir beim springenden Punkt wären: Der parlamentarische «Öffnungswahn» zeigt einmal mehr, wie schlecht die Schweiz für epochale Krisen gerüstet ist. Die Spanische Grippe war vor 100 Jahren das letzte derartige Ereignis. Obwohl sie schlimmer war als Corona – damals starben vor allem junge Männer –, wirkte sie weniger einschneidend.
Das Leben im Wohlstand hat uns bequem gemacht. Wir haben den Umgang mit den harten Seiten des Lebens verlernt und sind mit der Krise überfordert. Das erklärt auch, warum der Bundesrat trotz allem auf grossen Rückhalt in der Bevölkerung zählen kann.
Ob er das Vertrauen vollauf verdient hat, ist eine andere Frage. Seine Performance ist nicht über alle Zweifel erhaben. Im Umgang mit den Kantonen zeigte er teilweise wenig Fingerspitzengefühl (Stichwort Ski-Terrassen), und Beschlüsse und Briefe von Parlamentskommissionen ignorierte er. Ein gewisser Unmut ist nachvollziehbar.
Eine Pandemie lässt sich nicht mit dem ordentlichen Vernehmlassungsverfahren bewältigen. Aber der Bund hat sich auch immer wieder kommunikative Fehltritte (Stichwort Masken) und teilweise groteske Fehlentscheide (Stichwort Grossveranstaltungen) geleistet. Das mag in der Natur der Sache liegen: Wer bewältigt eine solche Krise schon pannenfrei?
Das Verständnis endet aber bei einem anderen Punkt: Nur mit Testen und Impfen werden wir die Lockdown-Logik überwinden und mit dem Virus leben können. Gerade hier aber klemmt es in der vermeintlich perfekt funktionierenden Schweiz bedenklich.
Beim Testen will der Bundesrat nun vorwärtsmachen. Bei den Impfstoffen aber gerät die Schweiz zunehmend in Rückstand. Bis Ende Februar konnte der Bund den Kantonen rund eine halbe Million Dosen weniger liefern als geplant, berichteten die Tamedia-Zeitungen. Geht es in diesem Tempo weiter, ist die Bevölkerung frühestens im Herbst geimpft.
Hier hätte das Parlament Druck machen können, statt auf fragwürdigem Weg ein Öffnungsdatum durchzustieren. In der Ständeratsdebatte vom Donnerstag gab es Kritik am langsamen Test- und Impfprozedere des Bundes, das die Überwindung der Pandemie zu verlängern droht. Doch das Parlament hat bislang in diesem wichtigen Bereich eine Chance verpasst.
Ein «Sturm auf das Bundeshaus» war es nicht, was das Parlament diese Woche ablieferte. Und höchstens ein Hauch von Trumpismus. Aber einmal mehr muss man feststellen: Die Schweiz kann Krise nicht. Es wird Zeit, dass sie dies lernt.
Also war auch nicht zu erwarten dass „gelenkte“ Politiker eine Krise meistern.