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Corona: Die Schweiz kann Krise definitiv nicht

Nein, das Virus verschwindet nicht auf Befehl des Parlaments aus der Schweiz.
Nein, das Virus verschwindet nicht auf Befehl des Parlaments aus der Schweiz.bild: keystone/shutterstock
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Der «Öffnungswahn» im Parlament zeigt: Die Schweiz kann Krise definitiv nicht

Der «Aufstand» im Parlament gegen die Corona-Politik des Bundesrats ist verpufft. Er hat aber gezeigt, wie schlecht unsere Institutionen mit einer epochalen Krise umgehen können.
06.03.2021, 11:0907.03.2021, 11:39
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War das jetzt ein Politschwank? Oder hat die Schweiz gerade eine veritable Staatskrise abgewendet? Man kann es beurteilen, wie man will. Doch was die Schweiz in der letzten Woche erlebt hat, war ein spezieller Vorgang in der bald 175-jährigen Geschichte des Bundesstaats: Einige bürgerliche Nationalräte wollten den Bundesrat entmachten.

Mit knapper Mehrheit drückten sie in der Gesundheits- (!) und der Wirtschaftskommission einen Antrag durch, die praktisch vollständige Aufhebung des Corona-Lockdowns am 22. März im Covid-19-Gesetz vorzuschreiben. Zwar war eine «Notbremse» für den Bundesrat vorgesehen, doch faktisch hätte er ungeachtet der epidemiologischen Lage öffnen müssen.

Magdalena Martullo-Blocher, SVP-GR, hoert einem Votum zu, waehrend der Debatte um eine Forderung zur raschen Lockerung der Corona-Massnahmen an den Bundesrat, an der Fruehlingssession der Eidgenoessis ...
Die Öffnungs-Turbos wie Magdalena Martullo-Blocher müssen sich mit einer Erklärung begnügen.Bild: keystone

Viel erreicht haben die Bürgerlichen nicht. Ihr Aufstand gegen die «Diktatur» von Gesundheitsminister Alain Berset fiel diese Woche kläglich in sich zusammen. Denn der Ständerat wurde seinem Ruf als Chambre de Réflexion wieder einmal gerecht. Er wollte auf den «parlamentarischen Amoklauf» der Nationalräte gar nicht eintreten.

«Chropfleerete» im Ständerat

Der Freiburger Ständerat Christian Levrat (SP) bezeichnete den Öffnungsantrag als verfassungswidrig. In der Debatte über das Covid-Gesetz am Donnerstag blieb es bei einer «Chropfleerete». Der Nationalrat wird am Montag nachziehen und vielleicht aus Trotz den Antrag durchwinken, am Ende aber wird sich die kleine Kammer durchsetzen.

Das Muskelspiel des Nationalrats wird sich auf die Mittwoch angenommene Erklärung beschränken, die den Bundesrat zu Lockerungen am 22. März auffordert. Sie ist rein symbolisch und nicht bindend. Den «Maulkorb» für die Science-Taskforce hat die Wirtschaftskommission bereits relativiert, doch die ursprüngliche Forderung zeigt eine bedenkliche Einstellung.

Wissenschaft unerwünscht

Die Bürgerlichen mochten dies wortreich bestreiten, doch letztlich ging es ihnen genau darum: Die Taskforce sollte ihre unbequemen Fakten nicht mehr offiziell verbreiten. Sie geht damit vielen auf die Nerven, doch hätte man im letzten Sommer auf die Warnungen der Taskforce gehört, wäre die Schweiz wohl nicht so blind in die zweite Welle geschlittert.

In ihren Sonntagsreden beschwören gerade Bürgerliche gerne die Bildung als einzigen Rohstoff der Schweiz. In dieser Krise aber ist die Meinung der Wissenschaft unerwünscht. Dem Bildungs- und Forschungsstandort Schweiz droht damit ein beträchtlicher Schaden. Doch zu so viel Weitsicht scheint unser Parlament nicht fähig zu sein.

Das Klagelied der Wirtschaft

Was steckt hinter solchen Harakiri-Ideen? Der Frust über den Bundesrat allein ist es nicht. Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Bürgerlichen ein offenes Ohr haben für die Anliegen der Wirtschaft. Deren Klagelied ist laut und unüberhörbar. Das ist verständlich, doch Sars-Cov-2 lässt sich nicht per Gesetz aus dem Land spedieren oder am Mutieren hindern.

Womit wir beim springenden Punkt wären: Der parlamentarische «Öffnungswahn» zeigt einmal mehr, wie schlecht die Schweiz für epochale Krisen gerüstet ist. Die Spanische Grippe war vor 100 Jahren das letzte derartige Ereignis. Obwohl sie schlimmer war als Corona – damals starben vor allem junge Männer –, wirkte sie weniger einschneidend.

Wir sind überfordert

Das Leben im Wohlstand hat uns bequem gemacht. Wir haben den Umgang mit den harten Seiten des Lebens verlernt und sind mit der Krise überfordert. Das erklärt auch, warum der Bundesrat trotz allem auf grossen Rückhalt in der Bevölkerung zählen kann.

Bundesrat Alain Berset spiegelt sich in einem Glas Wasser an einer Medienkonferenz des Bundesrates zur aktuellen Lage im Zusammenhang mit dem Coronavirus, am Freitag, 5. Maerz 2021. (KEYSTONE/Anthony  ...
Die Performance von Alain Berset und Co. war nicht immer überzeugend.Bild: keystone

Ob er das Vertrauen vollauf verdient hat, ist eine andere Frage. Seine Performance ist nicht über alle Zweifel erhaben. Im Umgang mit den Kantonen zeigte er teilweise wenig Fingerspitzengefühl (Stichwort Ski-Terrassen), und Beschlüsse und Briefe von Parlamentskommissionen ignorierte er. Ein gewisser Unmut ist nachvollziehbar.

Es klemmt bedenklich

Eine Pandemie lässt sich nicht mit dem ordentlichen Vernehmlassungsverfahren bewältigen. Aber der Bund hat sich auch immer wieder kommunikative Fehltritte (Stichwort Masken) und teilweise groteske Fehlentscheide (Stichwort Grossveranstaltungen) geleistet. Das mag in der Natur der Sache liegen: Wer bewältigt eine solche Krise schon pannenfrei?

Das Verständnis endet aber bei einem anderen Punkt: Nur mit Testen und Impfen werden wir die Lockdown-Logik überwinden und mit dem Virus leben können. Gerade hier aber klemmt es in der vermeintlich perfekt funktionierenden Schweiz bedenklich.

Parlament hat Chance verpasst

Beim Testen will der Bundesrat nun vorwärtsmachen. Bei den Impfstoffen aber gerät die Schweiz zunehmend in Rückstand. Bis Ende Februar konnte der Bund den Kantonen rund eine halbe Million Dosen weniger liefern als geplant, berichteten die Tamedia-Zeitungen. Geht es in diesem Tempo weiter, ist die Bevölkerung frühestens im Herbst geimpft.

Hier hätte das Parlament Druck machen können, statt auf fragwürdigem Weg ein Öffnungsdatum durchzustieren. In der Ständeratsdebatte vom Donnerstag gab es Kritik am langsamen Test- und Impfprozedere des Bundes, das die Überwindung der Pandemie zu verlängern droht. Doch das Parlament hat bislang in diesem wichtigen Bereich eine Chance verpasst.

Ein «Sturm auf das Bundeshaus» war es nicht, was das Parlament diese Woche ablieferte. Und höchstens ein Hauch von Trumpismus. Aber einmal mehr muss man feststellen: Die Schweiz kann Krise nicht. Es wird Zeit, dass sie dies lernt.

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quelle: keystone / urs flueeler
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182 Kommentare
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FrancoL
06.03.2021 11:22registriert November 2015
Dass das Parlament und somit ein grosser Teil der Politiker keine Krise bewältigen können war zu erwarten. Wer abhängig ist von seinen Seilschaften wird nie der Bewältigung der Krise dienen, sondern den Interessen der Seilschaften in Bezug auf die Krise. Diese Seilschaften haben ziehen einen spezifischen Nutzen aus dem Umgang mit der Krise und dies ist selten eine breit abgestützte Krisenlösung.
Also war auch nicht zu erwarten dass „gelenkte“ Politiker eine Krise meistern.
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du_bist_du
06.03.2021 11:33registriert Mai 2020
Ein Satz im Kommentar stimmt mich nachdenklich und zwar, dass wir überfordert seien. Ich finde das stimmt. Ich habe absolut Verständnis wenn jemand Angst um seine Existenz oder Angst vor der Krankheit hat. Das ist menschlich. Dass wir aber in der heutigen modernen Zeit, in einem mitteleuropäischen Land, als Gesellschaft, als System, mit einem solchen Virus überfordert sind, empfinde ich als Schande. Das darf nicht passieren imho.
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Stefan003
06.03.2021 12:45registriert Juni 2020
Wenn Corona wirklich eine Epochale Krise ist, dann frag ich mich was der Zweite Weltkrieg war. Wir hatten in den letztn 50 Jahren Glpck, dass ist alles.
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