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Nun nimm's mal mit Gemütlichkeit

Nun nimm's mal mit Gemütlichkeit!

Die NZZ wirft uns wieder einmal vor, wir seien viel zu bequem geworden. Ignoriert es – und geniesst die Sommerferien.
13.07.2017, 19:5614.07.2017, 08:16
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Die Schweizer würden immer sesshafter und unflexibler, jammerte André Müller jüngst in der «NZZ» und klagte: «Wozu nach Bern oder gleich in die Westschweiz ziehen, wenn alle Freunde in Zürich leben und sie im Lieblingscafé bereits wissen, wie man seinen Kaffee trinkt?»  

epa04657007 A barista prepares coffee during the eighth Salvadorean Championship of Barista in San Salvador, El Salvador, 10 March 2015. The Salvadorean Council of Coffee reduced by 25,63 percent its  ...
Ein guter Barista kennt die Vorlieben seiner Kunden. Bild: EPA/EFE

Damit wir nicht auf den sündhaften Gedanken kommen, das Leben zu geniessen, prangert Müller folgerichtig alle Bemühungen an, die dazu führen könnten. Also weg mit Genossenschaften und Subventionen. Bezahlbare Wohnungen machen uns träge. «Wer einmal hier wohnt, will kaum mehr weg.»  

Am Pranger: Die angeblich selbstzufriedene Klasse

Verwerflich sind auch schärfere Kündigungsvorschriften für ältere Arbeitnehmer oder steigende Lohnnebenkosten. Sie sind «Sand im Getriebe» einer effizienten Wirtschaft. Ein «gutes Schmiermittel» ist dafür eine moderate Steuerbelastung.  

Müller stützt sich in seiner Argumentation auf Tylor Cowen und sein Buch «The Complacent Class». Tatsächlich hat der US-Ökonom kürzlich in einem Interview mit watson die wachsende Selbstzufriedenheit der Menschen an den Pranger gestellt.  

Die Klage über die Bequemlichkeit ist alt

Wir seien kaum daran interessiert, neue Grenzen zu erforschen, so Cowen. «Stattdessen wollen wir das Bestehende ein bisschen hübscher machen. Unsere Welt ist eine Welt der Gentrifizierung. Ein neues Restaurant im Quartier, eine abnehmende Kriminalität – darunter verstehen wir heute Fortschritt.»  

Die Klage über die Sünde der Bequemlichkeit ist uralt. Ihren Höhepunkt erreichte sie mit der protestantischen Ethik. Luther, Zwingli und Calvin ist es gelungen, die weltabgewandte Askese der Mönche zum weltlichen Beruf umzudeuten. Dank Arbeit reich zu werden wurde so zu einem Zeichen, dass man von Gott auserwählt war. Diesen Reichtum auch zu geniessen, war hingegen ein Zeichen dafür, dass man vom Teufel verführt worden war.

Am Anfang war die protestantische Ethik

Die weltliche Askese der Protestanten war die kulturelle Triebfeder des Kapitalismus und hat den Wohlstand geschaffen, den wir in den entwickelten Ländern des 21. Jahrhunderts vorfinden. Inzwischen jedoch haben sich die Rahmenbedingungen massiv verändert. Wir leben nicht mehr in einer Welt des Mangels, sondern des Überflusses.  

Visitors stand in front of a video installation displaying a portrait of Martin Luther during the press preview of the exhibition '95 Treasures – 95 People' in the Augusteum in Wittenberg, G ...
Martin Luther: Hat den Mönch zum Berufsmann gemacht.Bild: Jens Meyer/AP/KEYSTONE

Unsere Wirtschaft ist heute so produktiv geworden, dass wir bei vernünftiger Aufteilung der Arbeit unsere wöchentliche Plackerei locker auf 20 bis 25 Stunden beschränken könnten, ohne dass wir unseren Wohlstand schmälern müssten. Dazu gibt es mehrere Studien von renommierten Instituten. Stattdessen erleben wir das Gegenteil. Von Managern und neoliberalen Ökonomen werden wir gebetsmühleartig aufgefordert, stets flexibler und effizienter zu werden – und noch mehr zu arbeiten.  

Die modernen Zwinglis und Calvins berufen sich dabei auf die Gebote der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, wie sie vom WEF, der OECD und anderen periodisch verkündet werden. Dass die Schweizer Wirtschaft seit Jahrzehnten als weltweit wettbewerbsfähigste gilt, wird dabei schamhaft verschwiegen.  

Stress ist teuer

Ebenfalls unter den Tisch fällt die Tatsache, dass die permanente Hatz nach mehr Effizienz gewaltige Kollateralschäden erzeugt. Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass kaum etwas mehr Stress erzeugt als Pendeln und unregelmässige Arbeitszeiten. Die Kosten, die dieser Stress verursacht, belaufen sich mittlerweile jährlich auf Milliardenbeträge, vom menschlichen Leid, das daraus entsteht, ganz zu schweigen.  

Die Jagd nach immer mehr Effizienz wird nicht nur zu einer Geissel der Menschheit, sie nimmt teilweise groteske Formen an. «Wir brauchen grosse Träume und unverantwortliche Projekte, mit denen wir auch scheitern können», fordert Cowen. «Ich würde das Raumfahrtprogramm neu auflegen, um alte utopische Träume neu zu beleben.»  

ZUM 30. JAHRESTAG DER EXPLOSION DES NASA SPACE SHUTTLE „CHALLENGER“ NACH DEM START AUF DEM KENNEDY SPACE CENTER IN FLORIDA, USA, AM DONNERSTAG, 28. JANUAR 2016, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIA ...
Brauchen wir die Raumfahrt wirklich? Das Space-Shuttleprogramm wurde schon längst eingestellt.Bild: AP

Diese Denkweise führt dazu, dass es mehrere Projekte gibt, den Mars zu bevölkern, obwohl selbst die unwirtlichste Gegend der Erde ein Vielfaches bewohnbarer ist. Nur: Wäre es nicht sinnvoller, unseren Planeten so zu gestalten, dass er allen Menschen und auch unseren Nachkommen ein anständiges Leben bieten kann?

Im Extremfall führt dieses Denken zu absurden Auswüchsen. Im Silicon Valley gibt es ernsthafte Versuche, Menschen dank künstlicher Intelligenz unsterblich zu machen. Gott zu spielen ist dem Menschen noch nie gut bekommen. Das lehrt uns bereits die Bibel mit der Geschichte des Turmbaus zu Babel.  

Die Digitalisierung als Chance für eine menschliche Wirtschaft

Die Digitalisierung gibt uns die Möglichkeit, eine Wirtschaft zu schaffen, die dem Menschen dient. Plackerei und eintönige Routinearbeit werden von Maschinen übernommen. Damit alle Menschen davon profitieren können, brauchen wir nicht mehr Effizienz und Flexibilität, sondern Demut und das Bewusstsein, dass wir nicht allmächtig sind.  

Weiss, wie man das Leben geniesst: Der Bär Balu im Dschungel-Buch.
Weiss, wie man das Leben geniesst: Der Bär Balu im Dschungel-Buch.

Wir brauchen eine Wirtschaft, die den Menschen dient – und nicht umgekehrt. Es ist absurd, den Menschen Bequemlichkeit vorzuwerfen, wenn sie nicht von einer 100-Stunden-Woche träumen, wenn sie nicht auf den Mars fliegen oder unsterblich werden wollen, wenn sie gerne in einer bezahlbaren Wohnung leben und sich freuen, wenn der Barista weiss, welchen Kaffee sie am liebsten trinken. In diesem Sinn: Schöne Sommerferien!

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34 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Karl33
13.07.2017 20:41registriert April 2015
Das peinlichst-verlogene ist ja, dass dieser NZZ-Journi das Übel in der Mieterschaft ortet, die zuwenig Miete bezahlt, d.h. mehr ausgebeutet werden könnte. Dass aber die Klientel der FDP/NZZ, die Haus- und Immobilienbesitzer, viel günstiger Wohnen als die Mieter und erheblich sesshafter ist, übersieht er gerne. Der Journalismus wird einfach immer schlechter, käuflicher, peinlicher.
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seventhinkingsteps
13.07.2017 23:21registriert April 2015
Der zweite Artikel, der mich ziemlich wütend machte, war ein Artikel in der NZZaS, wo Albert Steck darüber schreibt, wie gut es doch uns Schweizern geht. Abstract ist:

"Seit 1950 ist die Arbeitsdauer in der Schweiz um einen Drittel gesunken. Der Trend ist ein Beleg für die starke Zunahme des Wohlstands."

Das für diesen Rückgang auch Arbeitsrechtler und Gewerkschaften mittels Streiks verantwortlich sind, wird nicht gedacht. Für den 8-Stunden Tag musste damals knallhart gekämpft werden.

Kürzere Arbeitstage als Goodwill der Wirtschaft darzustellen ist schamloser Geschichtsrevisionismus.
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atomschlaf
13.07.2017 20:29registriert Juli 2015
Schon klar, die NZZ als Sprachrohr der Arbeitgeber möchte lieber devote und fleissige Arbeitsbienen, die nur noch für die Arbeit leben...
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