Die Schweizer würden immer sesshafter und unflexibler, jammerte André Müller jüngst in der «NZZ» und klagte: «Wozu nach Bern oder gleich in die Westschweiz ziehen, wenn alle Freunde in Zürich leben und sie im Lieblingscafé bereits wissen, wie man seinen Kaffee trinkt?»
Damit wir nicht auf den sündhaften Gedanken kommen, das Leben zu geniessen, prangert Müller folgerichtig alle Bemühungen an, die dazu führen könnten. Also weg mit Genossenschaften und Subventionen. Bezahlbare Wohnungen machen uns träge. «Wer einmal hier wohnt, will kaum mehr weg.»
Verwerflich sind auch schärfere Kündigungsvorschriften für ältere Arbeitnehmer oder steigende Lohnnebenkosten. Sie sind «Sand im Getriebe» einer effizienten Wirtschaft. Ein «gutes Schmiermittel» ist dafür eine moderate Steuerbelastung.
Müller stützt sich in seiner Argumentation auf Tylor Cowen und sein Buch «The Complacent Class». Tatsächlich hat der US-Ökonom kürzlich in einem Interview mit watson die wachsende Selbstzufriedenheit der Menschen an den Pranger gestellt.
Wir seien kaum daran interessiert, neue Grenzen zu erforschen, so Cowen. «Stattdessen wollen wir das Bestehende ein bisschen hübscher machen. Unsere Welt ist eine Welt der Gentrifizierung. Ein neues Restaurant im Quartier, eine abnehmende Kriminalität – darunter verstehen wir heute Fortschritt.»
Die Klage über die Sünde der Bequemlichkeit ist uralt. Ihren Höhepunkt erreichte sie mit der protestantischen Ethik. Luther, Zwingli und Calvin ist es gelungen, die weltabgewandte Askese der Mönche zum weltlichen Beruf umzudeuten. Dank Arbeit reich zu werden wurde so zu einem Zeichen, dass man von Gott auserwählt war. Diesen Reichtum auch zu geniessen, war hingegen ein Zeichen dafür, dass man vom Teufel verführt worden war.
Die weltliche Askese der Protestanten war die kulturelle Triebfeder des Kapitalismus und hat den Wohlstand geschaffen, den wir in den entwickelten Ländern des 21. Jahrhunderts vorfinden. Inzwischen jedoch haben sich die Rahmenbedingungen massiv verändert. Wir leben nicht mehr in einer Welt des Mangels, sondern des Überflusses.
Unsere Wirtschaft ist heute so produktiv geworden, dass wir bei vernünftiger Aufteilung der Arbeit unsere wöchentliche Plackerei locker auf 20 bis 25 Stunden beschränken könnten, ohne dass wir unseren Wohlstand schmälern müssten. Dazu gibt es mehrere Studien von renommierten Instituten. Stattdessen erleben wir das Gegenteil. Von Managern und neoliberalen Ökonomen werden wir gebetsmühleartig aufgefordert, stets flexibler und effizienter zu werden – und noch mehr zu arbeiten.
Die modernen Zwinglis und Calvins berufen sich dabei auf die Gebote der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, wie sie vom WEF, der OECD und anderen periodisch verkündet werden. Dass die Schweizer Wirtschaft seit Jahrzehnten als weltweit wettbewerbsfähigste gilt, wird dabei schamhaft verschwiegen.
Ebenfalls unter den Tisch fällt die Tatsache, dass die permanente Hatz nach mehr Effizienz gewaltige Kollateralschäden erzeugt. Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass kaum etwas mehr Stress erzeugt als Pendeln und unregelmässige Arbeitszeiten. Die Kosten, die dieser Stress verursacht, belaufen sich mittlerweile jährlich auf Milliardenbeträge, vom menschlichen Leid, das daraus entsteht, ganz zu schweigen.
Die Jagd nach immer mehr Effizienz wird nicht nur zu einer Geissel der Menschheit, sie nimmt teilweise groteske Formen an. «Wir brauchen grosse Träume und unverantwortliche Projekte, mit denen wir auch scheitern können», fordert Cowen. «Ich würde das Raumfahrtprogramm neu auflegen, um alte utopische Träume neu zu beleben.»
Diese Denkweise führt dazu, dass es mehrere Projekte gibt, den Mars zu bevölkern, obwohl selbst die unwirtlichste Gegend der Erde ein Vielfaches bewohnbarer ist. Nur: Wäre es nicht sinnvoller, unseren Planeten so zu gestalten, dass er allen Menschen und auch unseren Nachkommen ein anständiges Leben bieten kann?
Im Extremfall führt dieses Denken zu absurden Auswüchsen. Im Silicon Valley gibt es ernsthafte Versuche, Menschen dank künstlicher Intelligenz unsterblich zu machen. Gott zu spielen ist dem Menschen noch nie gut bekommen. Das lehrt uns bereits die Bibel mit der Geschichte des Turmbaus zu Babel.
Die Digitalisierung gibt uns die Möglichkeit, eine Wirtschaft zu schaffen, die dem Menschen dient. Plackerei und eintönige Routinearbeit werden von Maschinen übernommen. Damit alle Menschen davon profitieren können, brauchen wir nicht mehr Effizienz und Flexibilität, sondern Demut und das Bewusstsein, dass wir nicht allmächtig sind.
Wir brauchen eine Wirtschaft, die den Menschen dient – und nicht umgekehrt. Es ist absurd, den Menschen Bequemlichkeit vorzuwerfen, wenn sie nicht von einer 100-Stunden-Woche träumen, wenn sie nicht auf den Mars fliegen oder unsterblich werden wollen, wenn sie gerne in einer bezahlbaren Wohnung leben und sich freuen, wenn der Barista weiss, welchen Kaffee sie am liebsten trinken. In diesem Sinn: Schöne Sommerferien!