An den Gittern endet der Perron zum Gleis eins am Bahnhof Chiasso für normale Passagiere. Wer sie passiert, gehört entweder zum Schweizer Grenzwachtkorps (GWK), ist wie wir auf Reportage mit den Grenzwächtern oder ohne gültige Papiere in die Schweiz eingereist. Wie die beiden somalischen Frauen. Nur wenige Minuten zuvor nahm ihre Reise im Eurocity von Mailand nach Basel ein abruptes Ende. Den Grenzwächtern konnten sie keine gültigen Papiere vorweisen. Nun richten sie ihre farbigen Kopftücher, die Grenzwächter weisen ihnen den Weg.
Wir betreten die Zone hinter den Absperrgittern, es ist das Herzstück der Schweizer Kontrollen im Migrationsbereich im Südtessin. Hier stellen die Grenzwächter die Identität der Migranten und Flüchtlinge fest. Vergitterte Scheiben, vergitterte Türen. Weshalb? «Sie wurden nötig, als es vor einem Jahr zu Demonstrationen kam. Gewaltbereite Linksextreme haben es auf uns Grenzwächter abgesehen, gewaltbereite Rechtsextreme auf die Migrantinnen und Migranten. Die Gitter dienten zu unser aller Schutz», erklärt der zuständige Hauptmann Patrick Benz.
Im Sommer 2016 stiegen die Flüchtlingszahlen an der Schweizer Südgrenze auf Rekordhöhe. Im italienischen Nachbarort Como herrschte das pure Chaos. In einem wilden Camp beim Bahnhof übernachteten Hunderte Menschen unter freiem Himmel. Viele von ihnen waren von der Einreise in die Schweiz abgehalten worden und im norditalienischen Städtchen gestrandet.
Im mit modernen Scannern ausgestatteten Grenzposten in Chiasso müssen die beiden Somalierinnen ihr Gepäck abgeben. Dann registriert ein Grenzwächter ihre Fingerabdrücke und gleicht sie mit dem System ab. Danach können sich die Frauen im Warteraum setzen.
Piktogramme und TV-Bildschirme mit Erklärungen in über 20 Sprachen geben Anweisungen und Erklärungen. Hier pflegt die Schweiz keine Willkommenskultur, dafür «eine Kultur der Aufklärung», wie Benz sie nennt.
Mit dem Asylprozess hat das Verfahren des GWK nichts zu tun. Die Kompetenzen der Grenzwächter sind begrenzt. Doch am Bahnhof Chiasso stellen sie die Weichen, wohin der Weg der Migranten weiter führt: Landen sie im Schweizer Asylprozess, bei den Strafbehörden oder müssen sie direkt wieder retour nach Italien?
Weder der Abgleich der Fingerabdrücke noch ihr Verhalten macht die Somalierinnen verdächtig. Nacheinander müssen sich die Frauen in einem separaten Raum ausziehen. Eine Beamtin durchsucht sie nach Schmuggelware oder gefährlichen Gegenständen. Nun kommt es zum Gespräch. Hauptmann Benz erklärt stolz, dass es sich um einen Pilotversuch handle. «Einige Mitarbeiter wurden extra in Gesprächsführung geschult. Das Verfahren haben wir in Zusammenarbeit mit der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR entwickelt.» Extra bietet das GWK einen Somali-Übersetzer aus dem Empfangs- und Verfahrenszentrum des Staatssekretariats für Migration (SEM) auf, das sich in Gehdistanz befindet.
In der Schweiz oder in einem anderen europäischen Land weiter nordwärts erhofften sich die Somalierinnen ein besseres Leben als in Italien, erzählt Benz nach dem Gespräch. Eine der Frauen hat Schmerzen am Fuss und will sich hier behandeln lassen.
Keine der Frauen habe beim Gespräch gesagt, sie möchte in der Schweiz Asyl. Auch habe keine der Frauen in irgendeiner Art angetönt, dass sie Schutz benötige. Eine heikle Aufgabe für das GWK: Das Wort «Asyl» allein ist nicht zwingend, die Beamten müssen auch bei Schilderungen über eine Verfolgung oder Gefährdung auf einen Schutzanspruch schliessen. Wann also endet ihre Kompetenz, wann werden aus den Migranten potenzielle Flüchtlinge, deren Asylgründe durch die Fachleute beim zuständigen SEM abgeklärt werden müssen?
Wie die meisten, die derzeit nach Europa flüchten, haben die beiden Somalierinnen in Italien erstmals europäischen Boden betreten. Ob sie von den Italienern wie im Dublin-System vorgesehen registriert worden sind und ob sie bereits um Asyl gebeten haben, interessiert das GWK nicht. Benz erklärt es so: «Kommen wir zum Schluss, es handle sich bloss um widerrechtliche Aufenthalte im Sinne des Ausländergesetzes, so entscheiden wir selbst. Stellen wir aber ein Bedürfnis nach Schutz in der Schweiz im Sinne der Asylgesetzgebung fest, so leiten wir die Person weiter ans SEM.»
Mit den Frauen sprechen dürfen die Reporter dieser Zeitung nicht. «Wir haben damit aufgehört, das zu erlauben, weil die Migranten oftmals ihre Geschichten plötzlich änderten und es zu Aufregung und heiklen tumultartigen Szenen kam unter den Wartenden», erklärt Benz.
Die beiden Somalierinnen bleiben ruhig. Stoisch warten sie darauf, dass ein Minibus des GWK sie abholt, sie an die Grenze fährt und den italienischen Behörden übergibt.
Auf der anderen Seite der Grenze treffen wir am Bahnhof von Como ihre beiden gut gelaunten Landsmänner Abdullaah Faarah (19) und Faysal Ismail (17). Faarah hat es bereits drei Mal über die Grenze in die Schweiz versucht, Ismail sogar vier Mal. Immer mit demselben Resultat: Die Schweizer Grenzwächter stellten sie zurück nach Italien. Beide haben sie offenbar nie ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt. Auch gegenüber dieser Zeitung machen sie kein deutliches Schutzbedürfnis geltend. Das Wort Asyl verstehen sie nicht.
Die Somalierinnen und Somalier, die wir an diesem Tag in Como und Chiasso treffen, sind mit ihrem Schicksal nicht allein. Im ersten Halbjahr 2017 kam es gemäss GWK zu fast 8300 Aufgriffen von Menschen, die illegal in die Schweiz eingereist waren. In rund 7000 der Fälle wurden die Menschen von den Grenzwächtern gleich wieder an Italien rücküberstellt. Dazu passen die Asylzahlen des SEM: Nie waren sie in den letzten sechs Jahren tiefer als zurzeit.
Sorgen bereitet dies vor allem den Italienern. In Süditalien hält der Zustrom von Bootsflüchtlingen weiter an. Das Land sieht sich kaum noch in der Lage, die vielen Flüchtlinge aufzunehmen, und fordert von den abgeschirmten EU-Ländern im Norden Unterstützung.
Auch Hauptmann Benz zerbricht sich wegen der Entwicklung den Kopf. Was, wenn die Zahlen plötzlich doch wieder massiv steigen? Noch kann auch er nur spekulieren. «Im Sommer gibt es wegen der Gemüse- und Obsternte in Italien mehr Jobs für Flüchtlinge.» Auf dem Schwarzmarkt sind sie billige Arbeitskräfte. «Gut möglich, dass die Zahlen auf den Herbst hin wieder ansteigen.» (aargauerzeitung.ch)