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Schweizer Rückschaffungs-Chef über freiwillige Syrien-Heimkehrer: «Plötzlich kommt ein Telefonanruf. Und dann gehen sie»

«Die Schweiz blieb bislang von den ganz grossen Flüchtlingsbewegungen verschont»: Flüchtlinge nach der Ankunft am Hauptbahnhof München. 
«Die Schweiz blieb bislang von den ganz grossen Flüchtlingsbewegungen verschont»: Flüchtlinge nach der Ankunft am Hauptbahnhof München. 
Bild: EPA/DPA

Schweizer Rückschaffungs-Chef über freiwillige Syrien-Heimkehrer: «Plötzlich kommt ein Telefonanruf. Und dann gehen sie»

Die meisten Asylbewerber aus Eritrea, Syrien, Afghanistan und Somalia erhalten einen negativen Asylentscheid – dürfen aber aufgrund der schwierigen Lage in ihrer Heimat vorerst hier bleiben. Was passiert, wenn diese zigtausenden Menschen sich in der Schweiz einleben? Bei vielen sei eine Rückführung nicht mehr realistisch, sagt Michael Morf, Chef der Abteilung Rückkehr im Staatssekretariat für Migration. Und das sei gut so.
05.10.2015, 16:4106.10.2015, 10:03
Kian Ramezani
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Spüren Sie beim Staatssekretariat für Migration etwas von einem Asylchaos?
Michael Morf: Nein. Zum einen blieb die Schweiz bislang im Vergleich zu anderen Ländern von den ganz grossen Flüchtlingsbewegungen verschont. Alle neu ankommenden Asylsuchenden konnten in den bestehenden Strukturen versorgt, registriert und untergebracht werden. Zum anderen sind wir eine sehr erfahrene Behörde und stellen uns wichtige Fragen nicht erst, wenn eine schwierige Situation auftaucht. Wir analysieren fortlaufend Informationen aus den Herkunftsländern und versuchen, Tendenzen zu antizipieren und uns darauf einzustellen.

Die Grundlage für Ihre Arbeit bildet das Asylgesetz von 1998. Wird es der heutigen Realität noch gerecht?
Die Schweiz beschäftigte sich damals sehr eingehend mit Asylfragen und entwickelte daraus das Asylgesetz. Wir profitieren noch heute von dieser Pionierleistung – auch wenn es seither mehrere Revisionen durchlaufen hat: Aufgrund der Balkankriege und der gewaltigen Migrationsbewegungen mussten wir uns der Rückkehrthematik annehmen. Seit der Jahrtausendwende gewinnt die Frage der Integration an Bedeutung. Aktuell läuft in Zürich der Testbetrieb mit den beschleunigten Asylverfahren. Sie sind Hauptbestandteil der vom Parlament beschlossenen Neustrukturierung des Asylwesens.

Die drei häufigsten Asylentscheide
Asylgewährung, wenn der Antragsteller glaubhaft darlegt, dass er in seiner Heimat wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt ist.
Vorläufige Aufnahme, wenn ​kein Asyl gewährt wird, die Rückführung des Antragsstellers aber nicht zulässig, zumutbar oder technisch möglich ist. Kommt besonders bei Bürgerkriegen zur Anwendung.
Ablehnung und Wegweisung, wenn kein Asyl gewährt wird und nichts gegen eine Rückführung in das Herkunftsland spricht. 

Sie sprechen die Rückkehrthematik an. Ein Grossteil der Menschen, die derzeit in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, kommt aus Bürgerkriegsländern und wird vorläufig aufgenommen. Das heisst, irgendwann müssen sie zurück.
Man muss sich immer vor Augen halten, dass diese Leute ihre Heimat nicht freiwillig verlassen, sondern sehr schwierige Umstände sie dazu zwingen. Entsprechend geben viele die Hoffnung nie auf, eines Tages heimzukehren, sobald die Lage in ihrer Heimat es einigermassen zulässt. Wir haben das nach den Balkankriegen gesehen, als Zehntausende heimkehrten. Auf der anderen Seite sehe ich immer wieder Schicksale von Flüchtlingen, die in der Schweiz Asyl erhielten und sich eine neue Zukunft aufgebaut haben, aber trotzdem nie ganz glücklich wurden.

Was ist mit jenen, die gehen müssen, aber nicht wollen?
Unser Ziel ist, wenn immer möglich eine freiwillige Ausreise zu bewirken. Wir machen den Personen im Asylprozess von Beginn weg und in ihrer Muttersprache klar, was ihre Aussichten und Optionen sind. Dazu gehört im Fall eines negativen Entscheids eine Rückkehrperspektive einschliesslich Rückkehrhilfe. Diese besteht aus den Reisekosten, einem Barbetrag und einer deutlich höheren Projektfinanzierung, die allerdings erst im Herkunftsland geleistet wird. Vielleicht war die betreffende Person in ihrer Heimat Bäcker und möchte nach der Rückkehr eine Bäckerei eröffnen. Im Rahmen der Rückkehrberatung wird dann ein Businessplan erarbeitet. In Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die in über 100 Ländern über Büros verfügt, begleiten wir den Rückkehrer bei der Umsetzung.

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bild: watson

Verschwinden diese Leute danach vollständig vom Radar der Schweizer Behörden?
Eine interesssante Frage: Wo endet die Verantwortung der Schweiz als Staat, die irgendwann einmal einer Person Schutz gewährte? Das kann sicher nicht ewig dauern. Im Rahmen eines Monitorings beauftragen wir die IOM hin und wieder, eine zurückgekehrte Person nach einem Jahr zu besuchen und zu sehen, wie es ihr geht und ob das im Rahmen der Rückkehrhilfe erarbeitete Projekt funktioniert. In den meisten Fällen ist das Fazit positiv, aber natürlich nicht immer. In seltenen Fällen sind die Leute gar nicht mehr dort, sondern haben ihr Land bereits wieder verlassen.

Zur Person
Michael Morf ist Chef der Sektion Nordafrika, Mittlerer Osten und Südasien im Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern und verantwortlich für die Rückkehr von abgewiesenen Asylbewerbern.

Gehe ich richtig in der Annahme, dass derzeit niemand aus Eritrea, Syrien, Irak und Afghanistan von der individuellen Rückkehrhilfe Gebrauch macht?
Nicht ganz. Seit 2007 ist laut Schweizer Asylpraxis die Rückkehr in den kurdisch beherrschten Nordirak wieder möglich, geknüpft an strenge Bedingungen, die für jeden individuellen Fall überprüft werden. Faktisch kommen hierfür nur junge Männer mit einem intakten Beziehungsnetz vor Ort in Frage. Es gibt auch vereinzelte Fälle, in denen vorläufig Aufgenommene freiwillig nach Syrien zurückgehen. Das ist nur menschlich: Plötzlich kommt ein Telefonanruf, der Vater oder die Mutter liegt im Sterben. Und dann gehen sie.

Top 10 Herkunftsländer: Entwicklung der vorläufigen Aufnahmen

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In diesen Ländern ist die Lage seit geraumer Zeit schwierig und wird es wohl noch eine Weile bleiben. Ist es überhaupt realistisch, Menschen nach langer Zeit wieder zurückzuschicken?
Wer zehn oder 15 Jahre hier gelebt hat, wird natürlich nicht von heute auf morgen zurückgeschickt. Die Kantone haben hierfür die Möglichkeit einer Härtefallregelung und machen davon auch Gebrauch, wenn sich eine Person sehr gut integriert hat. Gehen wir zurück zum Beispiel Nordirak. Zwischen 2003 und 2007 wurde niemand dorthin zurückgeführt. Dann kam die Änderung und zahlreiche vorläufig Aufgenommene erhielten ihren Wegweisungsbescheid und eine Einladung zur Anhörung beim SEM. Dort erschienen dann auch Leute, welche inzwischen die Sprache gelernt, einen Job gefunden und Kinder eingeschult hatten. Eine solche Person kann man nicht mehr zurückführen.

Der Bund fördert die Integration gezielt. Heisst das nicht, dass er damit letztlich auch den Verbleib dieser Menschen in der Schweiz forciert?
Bei Personen, die weder Asyl noch eine vorläufige Aufnahme erhalten, streben wir schnelle Verfahren und eine rasche Rückführung an. Bei den anderen ist klar, dass sie für längere Zeit in der Schweiz bleiben werden. Eine gute Integration ist hier in unserem eigenen Interesse: Wir haben nicht nur den Auftrag, den Schutzbedürftigen Schutz zu gewähren, sondern auch ein friedliches Nebeneinander mit der Schweizer Bevölkerung sicherzustellen.

Asylbewerber im Empfangszentrum Chiasso (23.07.2014).
Asylbewerber im Empfangszentrum Chiasso (23.07.2014).
Bild: TI-PRESS

Menschen, die sich gut integrieren und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden, sind der Best Case. Sprechen wir über den Worst Case: abgewiesene Asylbewerber, die sich der Wegweisung bis zuletzt widersetzen.
Leider gehören auch solche Fälle zu unserem Alltag. Ich betreue unter anderem die Region Nordafrika, darunter Tunesien und Algerien, von wo viele junge Männer in die Schweiz kommen. Ihre Asylanträge werden im Schnellverfahren abgewiesen, wodurch klar sein sollte, dass sie hier keine Perspektive haben. Befinden sich abgewiesene Asylbewerber erst einmal in Ausschaffungshaft, wollen sie mit uns eigentlich nicht mehr reden. Unsere Aufgabe ist es dann, nach kreativen Wegen zu suchen, dass der Dialog nicht völlig abbricht.

Ultima Ratio sind die Sonderflüge.
Eine Zwangsrückführung per Sonderflug ist nicht nur teuer, sondern auch menschlich schwierig. Noch schwieriger wird es allerdings, wenn dieses Mittel nicht zur Verfügung steht: Die Schweiz hat zum Beispiel ein Migrationsabkommen mit Algerien, das Rückführungen mit Sonderflügen ausdrücklich verbietet. Möglich sind einzig durch Kantonspolizisten begleitete Rückführungen auf Linienflügen.

«Wir vergessen manchmal, dass es auch in anderen Ländern eine öffentliche Meinung gibt, die Druck auf Parlament und Regierung ausüben kann.»
Michael Morf

Inwiefern ist das schwieriger als ein Sonderflug?
Alles hängt davon ab, wie sich die Person verhält. Leider gibt es viele, die nicht kooperieren. Das führt dazu, dass der Kapitän den Zutritt ins Flugzeug verweigern kann. Die Rückführung ist dann vorerst gescheitert und wir müssen nach anderen Wegen suchen.

Warum akzeptieren einzelne Länder keine Rückführungen durch Sonderflüge?
Wir vergessen manchmal, dass es auch in anderen Ländern eine öffentliche Meinung gibt, die Druck auf Parlament und Regierung ausüben kann. Es ist denkbar, dass die Vorstellung von der erzwungenen Rückkehr eines Mitbürgers durch einen Drittstaat nicht behagt. Das war früher einfacher: Als ganz Europa von einigen wenigen Königshäusern beherrscht war, gab es eine Abmachung, dass keiner beleidigt war, wenn Untertanen von einem Ort in einen anderen migrierten.

Heute haben wir dieses Ungleichgewicht, dass eigentliche alle entweder nach Deutschland oder Schweden wollen.
Das Ziel müsste tatsächlich sein, dass irgendwann alle Länder in Europa dieselben Leistungen anbieten. Dann funktioniert auch der Verteilschlüssel. In der Schweiz, mit ihren 26 Kantonen so etwas wie eine Mini-EU, haben wir das gelöst: Es ist sichergestellt, dass ein Asylbewerber, der im Kanton Graubünden untergebracht wird, dieselben Leistungen erhält wie einer im Kanton Zürich.

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8 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Caprice
05.10.2015 19:26registriert April 2014
Danke fuer das Interview. Ich schätze es riesig, wenn Leute aus der Praxis zu Wort gelassen werden und nicht nur Politiker, die ihr Leben noch nie mit einem Asylbewerber zu tun hatten.
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mitch01
05.10.2015 17:30registriert September 2015
guter artikel, sehr sachlich :)
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simiimi
05.10.2015 18:48registriert März 2015
Da sieht man doch exemplarisch das Problem im Asylbereich: Es "menschelt" zu sehr. Der Staat soll im Asylbereich gefälligst genau so mitleidlos vorgehen wie bei der Steuerveranlagung
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Eklat in der SVP: Christian Imark stellt pikante Forderung an Magdalena Martullo-Blocher
Das ist höchst ungewöhnlich. Energiespezialist Imark greift SVP-Vizepräsidentin Martullo-Blocher offen an. Sein Vorwurf: Mit ihrem Nein zum Stromgesetz gefährde sie langfristige Parteiinteressen.

Auf der einen Seite steht Christian Imark. Der SVP-Nationalrat aus Solothurn brachte am 2021 das CO₂-Gesetz praktisch im Alleingang zum Absturz. Im Februar 2024 reichte er als Mitglied des Initiativkomitees die Blackoutinitiative ein, die neue AKW wieder erlauben will. Und 2023 war er als Vertreter der Energiekommission (Urek) verantwortlich dafür, dass die SVP-Fraktion das Stromgesetz von SVP-Bundesrat Albert Rösti mit 36:18 Stimmen absegnete. Die Volksabstimmung findet am 9. Juni statt.

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