Das Video des selbsternannten Ghost Riders, der sich im September 2014 eine wilde Verfolgungsjagd mit der St.Galler Polizei lieferte, spaltet die Gemüter: Muss man Verständnis dafür aufbringen, dass einer der Beamten den Töff-Rowdy als «verdammte huere Chrüppel» bezeichnet und sagt: «Ich mach di kaputt»? Oder war diese Reaktion jenseits von gut und böse?
Zunächst zu den Fakten: Unbestritten ist, dass der 41-Jährige praktisch alle Verkehrsregeln gebrochen hat, die man brechen kann: Er fuhr ohne Kontrollschilder mit 100 Kilometern pro Stunde innerorts, bretterte über einen Veloweg, missachtete mehrere Rotlichter, fuhr auf der falschen Seite an Verkehrsinseln vorbei und gefährdete die anderen Verkehrsteilnehmer. Bei der St.Galler Staatsanwaltschaft ist ein Verfahren hängig, den Ausweis ist der Töfffahrer bis auf weiteres los.
Unbestritten ist auch, dass die Polizisten nicht rechtmässig gehandelt haben. Gegen beide läuft ein Verfahren, zu dem aber weder Staatsanwaltschaft noch Stadtpolizei genauere Auskünfte geben können. Rolf Zopfi von der Menschenrechtsorganisation Augenauf sagt: «Das Verhalten der Polizisten ist klar widerrechtlich.» Ob es sich dabei aber um eine einfache Drohung oder um Amtsmissbrauch handle, sei schwer zu beurteilen. Zopfi: «In dieser Frage tut sich ein weites Feld auf.»
Was bleibt? Die Frage, was in den Köpfen zweier Polizisten passiert, die einen Kamikaze-Töfffahrer verfolgen müssen. Das weiss der forensische Psychiater Thomas Knecht.
Herr Knecht, was geht in einem Polizisten vor, der in eine solche Szene verwickelt ist?
Thomas Knecht: Das erklärt man besser neurochemisch als psychologisch. Einfach zu sagen, es werde bei einer Verfolgungsjagd der Jagdinstinkt stark aktiviert, würde einer solchen Situation wohl nicht gerecht werden.
Das heisst?
In einer solchen Situation werden drei Hormone aktiviert: Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin. Adrenalin und Noradrenalin steigern die Erregbarkeit des Nervengewebes. Sie enthemmen. Dopamin löst den sogenannten «fokussierten Abruf» aus – erhöhte Konzentration, schnelle Reaktion. Das Hirn wird quasi in diesen anregenden Substanzen gebadet.
Und dann?
Das Ausschütten von Dopamin führt dann eben auch dazu, dass das Hirn weniger Alternativen zur Verfügung stellt, man überlegt nicht mehr gross, sondern handelt nur noch. Die normalen inneren Zensuren fallen weg und die Schwelle dessen, was man persönlich eigentlich für angemessen hält, rutscht runter.
Wann geht das vorbei?
Sobald das Gefühl aufkommt, man sei Herr der Lage, man habe die Situation wieder unter Kontrolle, ist alles wieder normal. Das dauert wenige Minuten. Vorausgesetzt, es passiert nichts Neues, beispielsweise dass plötzlich eine Waffe im Spiel ist.
Ein Polizist müsste sich doch beherrschen können.
Bei einer solch langen Verfolgungsjagd wird das Hirn eines Polizisten immer in die gleiche Richtung stimuliert, die immer gleichen Enzyme in der Hirnflüssigkeit aktiviert. Dann schiesst man eben übers Ziel hinaus, die Polizisten verlieren die normale Einschätzungsgabe, ob ihre Kampfbereitschaft der Situation angemessen ist.
Was müssen Polizisten tun, damit sie nicht die Fassung verlieren?
Theoretisch können bestimmte Tabletten das Ausschütten der Hormone verhindern. Dann ist aber auch die Reaktionsfähigkeit weg. Das geht also nicht. Grundsätzlich gilt: Je besser man vorbereitet ist, je mehr Erfahrung man hat, desto weniger massiv sind diese neurochemischen Reaktionen.
Und ohne die Erfahrung machen zu müssen?
Man kann natürlich solche Extremsituationen simulieren, Adrenalin unter kontrollierten Bedingungen ausschütten und die Leute so resistenter machen. Aber alle Polizisten zum Bungeejumping zu schicken, ist auch nicht unbedingt eine Lösung. Wichtig ist Handlungssicherheit: Wie weit gehen die Pflichten der Polizisten? Das hat einen beruhigenden Effekt.
Max Hofmann, Präsident des Schweizer Polizeiverbandes, stimmt dem nur bedingt zu. «Die Trainings, die Reglemente, die Anweisungen – all diese Dinge sind nur technische Aspekte», sagt er auf Anfrage. Stresssituationen, auch Verfolgungsjagden, würden zwar simuliert, aber Polizisten seien Menschen, keine Maschinen. Hofmann: «Fehler können passieren.»
Hätten sie ihn denn nach der gefährlichen Verfolgungsjagd zuerst einmal nach seinem Befinden fragen sollen? Ihm gar einen Beruhigungstee anbieten sollen? Die olle Wurst ist verdammt nochmal geflohen, nachdem man ihn mehrmals zum Anhalten aufgefordert hat. Da ist er ganz einfach selbst schuld.