Manuel Wyss mag es gerne schön. Der Bauplaner arbeitet für ein Architekturbüro bei Bern. Nun sitzt er auf einem Designerstuhl im dazugehörenden Restaurant und isst zu Mittag. Die hochwertigen Möbel stehen zum Verkauf. Stilecht mag es Wyss auch zu Hause. «Vor fünf Jahren haben wir dieses Haus zur Miete gesehen. Die Lage war perfekt, mitten im Dorfzentrum, das Haus modern, tolle Architektur, die Aussicht auf den Kirchhof wunderschön», schwärmt er. Wyss mietete das Objekt und zog mit Frau und Sohn nach Worb.
Das moderne Einfamilienhaus steht direkt neben der evangelisch-reformierten Kirche. Der Turm ist hoch, die Fassade weiss. Hohe Bäume spenden Schatten im gepflasterten Innenhof. Die Rasenflächen sind gepflegt, ein wahres Idyll. Wären da nur nicht diese Glocken.
«Ich verschwendete vorher doch nie einen Gedanken daran, wie laut Kirchenglocken sein können», sagt Wyss und stochert in seinem Salat. Doch bald merkten Wyssens: Das Geläut fühlte sich wie Hammerschläge an. In der Nacht raubten ihnen die Viertelstundenschläge den Schlaf. Und in derselben Zeit entwickelte Wyss’ Nachbarin eine Schlafstörung.
Ob die Kirchenglocken schuld sind daran oder nicht, lässt sich nicht eruieren. Fakt ist: Die Nachbarn, die ihr altes Haus in direkter Nachbarschaft zur Kirche schon lange bewohnen, begannen, sich gegen den Lärm zu wehren. Wyss schloss sich ihrem Kampf an.
75 Dezibel wurden in Wyssens Wohnung bei offenem Fenster gemessen. Das ist lauter, als die ETH für die bisher einzigartige Studie von 2011 bei ihren insgesamt 27 Versuchspersonen gemessen hatte. Damals untersuchten die Forscher, welche Auswirkungen der Glockenschlag auf den Schlaf der Probanden hatte. Die Autoren kamen zum Schluss, dass es bereits bei deutlich unter 60 Dezibel zu Aufwachreaktionen kommen kann. In einer Modellrechnung für acht Stunden Schlaf kam es bei einem Glockenschlag mit 40 Dezibel neben dem Ohr des Schlafenden zu durchschnittlich einer zusätzlichen Aufwachreaktion. 15 bis 20 solche Reaktionen gibt es ohnehin jede Nacht, auch ohne besonderen Lärm. Bei 60 Dezibel registrierten die Forscher immerhin bereits fünf zusätzliche Aufwachreaktionen.
Hinzu kommt ein weiteres Problem, wie Wyssens Nachbarin es beschreibt: Weil der Glockenschlag in der Nacht alle Viertelstunde einmal hämmert, kann sie gar nicht mehr einschlafen. Immer nach einer Viertelstunde sei sie gerade so weit und der Schlaf übermanne sie, ehe der nächste Schlag sie erneut in einen hellwachen Zustand versetze. Das Plötzliche des Glockenschlags werten die ETH-Studienautoren sogar als störender als Fluglärm.
Nun schielen die Worber Glockengegner auf Wädenswil am Zürichsee. Dort wird der Streit um Kirchenglocken zum Fall für das Bundesgericht. Nach einem aufsehenerregenden Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts von diesem Sommer hätte die Kirchgemeinde die nächtlichen Viertelstunde-Glockenschläge eigentlich ausschalten müssen. Doch der Kirchgemeinderat akzeptiert das Urteil nicht. Nächste Woche deponiert er, unterstützt vom Stadtrat, die Beschwerde bei den Richtern in Lausanne.
Zwar kam es auch schon in der Vergangenheit hin und wieder zu Bundesgerichtsentscheiden wegen des Glockenlärmstreits. Doch erstmals werden sich nun die Richter zur Anwendbarkeit der ETH-Studie von 2011 äussern. Denn diese ist gerade in kirchlichen Kreisen heftig umstritten. Und sogar die Studienautoren selbst halten fest, dass Nachfolgestudien wünschenswert wären.
Geben die Bundesrichter den Zürcher Verwaltungsrichtern recht, so hätten Glockengegner landauf, landab gute Argumente, das Abstellen der Glocken in ihrer Nachbarschaft einzufordern.
Kirchgänger, Gläubige und Traditionalisten landauf, landab fürchten nun einen Präzedenzfall. An der Basis der Landeskirche fürchten nicht wenige, dass eine Abschaltung des nächtlichen Stundenschlags den Anfang vom Ende des sakralen Geläuts zu Predigten, Abdankungen, gar Hochzeiten einläuten könnte. Vordergründig geht es dem Wädenswiler Kirchgemeinderat aber um etwas anderes: «Wir finden es nicht in Ordnung, dass zwei Einzelpersonen sich über den Mehrheitswillen stellen wollen», sagt der Kirchenpflegepräsident Peter Meier. Er versteht die Kirche als Hüterin der Demokratie und verweist auf eine von mehr als 2000 Bürgern unterzeichnete Petition und eine Telefonumfrage, die man dieser Tage in Auftrag gegeben habe. «Wir wollen den Bundesrichtern aufzeigen, dass die überwiegende Mehrheit an der Tradition des Kirchengeläuts festhalten will.»
Auch in Worb ist der Glockenstreit bereits weit vorangeschritten. Manuel Wyss erinnert sich an erste «einvernehmliche und konstruktive Gespräche» mit der Gemeinde. Ansprechpartnerin für die Worber Glockengestörten war nicht etwa die Kirchgemeinde, sondern die politische Gemeinde. Denn diese bestellt bei der Kirchgemeinde den sogenannt säkularen Glockenschlag (siehe Kasten rechts oben).
«Die Enttäuschung war gross, als wir bloss eine schnöde kurze Antwort von der Gemeinde erhielten», erinnert sich Wyss. Doch er und seine Nachbarn gaben nicht auf und schalteten den Regierungsstatthalter ein, der seinerseits entschied, dass der Streit Sache der Berner Kantonsverwaltung sei. Diese verfasste einen Bericht, nahm diesen Sommer ebenfalls Bezug auf die ETH-Studie und verfügte: Der Viertelstundeschlag zwischen 22 Uhr und 7 Uhr in der Früh ist auszusetzen.
Und nun zog der Worber Kirchgemeinderat den Entscheid weiter vor das kantonale Verwaltungsgericht. Weil damit der Entscheid der Berner Verwaltung nicht rechtskräftig ist, tritt er vorerst nicht in Kraft. Noch schweigen die Worber Glocken nicht.
Doch Wyss und seine Nachbarn haben Unterstützung erhalten. Wyss’ Vermieterin Antoinette Hofmann hat sich in der Zwischenzeit in den Streit eingeschaltet. Mit den Nachbarn zusammen teilt sie die noch unbebaute Wohnzone neben der Kirche. «Das Land wurde von der Gemeinde vor wenigen Jahren extra eingezont. Worb will wachsen, aber nicht an seinen Rändern, sondern im Zentrum», sagt sie.
Das Stichwort heisst verdichtetes Bauen. Antoinette Hofmann ist Juristin und ihr ist klar: «Ich kann doch nicht Wohnungen neben dem Kirchturm bauen und diese mit gutem Gewissen an Familien vermieten, solange ich davon ausgehen muss, dass der Glockenschlag ein Gesundheitsrisiko darstellt.» Hofmann fragt sich, ob sie wegen der neuen Fakten, welche die ETH-Studie geschaffen hätten, einen Minderwert des Grundstücks erlitten habe.
Im Architekten-Restaurant bestellt Manuel Wyss einen Espresso, gebrüht mit speziell gerösteten kolumbianischen Bohnen. Wurde er von der schönen Wohnlage in Worbs historischem Kern geblendet? «Leute sagten: ‹Warum ziehst du auch in Kirchennähe? Ist doch logisch, dass du dort die Glocken hörst!› Doch darüber hatten wir uns schlicht keine Gedanken gemacht, wir sind auch nicht besonders lärmempfindlich», sagt er. Als Mieter könnte Wyss wieder ausziehen, ohne grösseren materiellen Schaden. Doch den Streit, den will er nun zu Ende fechten. «Es kann nicht sein, dass wir uns über wissenschaftliche Erkenntnisse hinwegsetzen und das Argument einer nicht enger definierten Tradition höher gewichtet wird als das Bedürfnis nach Nachtruhe von Anwohnern.»
Wyss und seine Nachbarn wären zufrieden, würde der Viertelstundenschlag in der Nacht verstummen. Das will man in kirchlichen Kreisen nicht recht glauben. Man fürchtet den Anfang vom Ende: dass es nach dem Stundenschlag auch dem Kirchengeläut an den Kragen geht. Und die Kirchen bald nur noch schön anzusehen sind, von ihnen aber gar nichts mehr zu hören ist.
Die ETH-Studie, auf die sich Gerichte nun berufen, hat es in sich. Der Lärmforscher Mark Brink erklärt die wichtigsten Resultate.
Gefährdet der Lärm von Kirchenglocken unsere Gesundheit?
Mark Brink: Das kann man so nicht direkt sagen, weil es an Langzeitstudien fehlt, die aufzeigen könnten, ob die Gesundheit langfristig leidet, wenn man häufiger durch Geräusche aufwacht.
Trotzdem: Ein ungestörter Schlaf ist ein hohes Gut. Wie sehr stören Kirchenglocken in der Nacht?
Bei unseren Untersuchungen haben wir die Hirnströme schlafender Menschen gemessen. Schlafen ist vor allem ein aktiver Prozess des Gehirns. Wir haben untersucht, wie stark Glockenschläge zu Veränderungen der Hirnströme und zu Aufwachreaktionen führen. Der Effekt war sogar etwas ausgeprägter als bei Fluglärm bei gleichem Maximalpegel. Wie sehr ein Glockenschlag nun tatsächlich dazu führt, dass jemand aufwacht, ist von der Lautstärke des Glockenschlags im Schlafzimmer abhängig. Diese Lautstärke wird zum Beispiel davon beeinflusst, wie weit der Kirchturm von der Wohnung entfernt steht, wie die Umgebung beschaffen ist, ob man die Fenster geöffnet hat et cetera.
Kirchenglocken stören unseren Schlaf stärker als Fluglärm? Wie kommt das?
Wir vermuten, dass die Impulsartigkeit eines Geräuschs eine Rolle spielt. Beim Glockenschlag handelt es sich um einen sehr impulsiven Laut. Dabei schlägt ja auch ein Klöppel oder ein Hammer gegen die Glocke. Dieser Schlag kommt gewissermassen plötzlicher als das Geräusch eines startenden Flugzeugs.
Wie oft wacht man denn nun durch Glocken auf, wenn man neben einer Kirche wohnt?
Gehen wir einmal von einer Schlafdauer von acht Stunden in der Nacht aus: Beträgt dann die Lautstärke eines Glockengeräuschs am Ohr 60 Dezibel, so kommt es zu etwa fünf zusätzlichen Aufwachreaktionen, die sich im Hirnstrombild zeigen. 60 Dezibel im Schlafzimmer werden aber nur in unmittelbarer Nähe des Kirchturms erreicht. Und Aufwachreaktionen, wie wir sie gemessen haben, sind nicht unbedingt mit bewusstem Aufwachen gleichzusetzen.
Was geht physiologisch genau vor sich, dass wir aufwachen bei Lärm?
Unser gesamter Wahrnehmungsapparat ist eher auf Veränderungen in der Umwelt ausgerichtet als auf Zustände. Ein Glockenschlag, aber auch ein startendes Flugzeug oder ein aufheulender Töffmotor erzeugen eine schnelle Veränderung der akustischen Szenerie. Darauf reagiert unser Körper eher, im Gegensatz zum lauten, aber gleichmässigen Rauschen eines Bachs oder einer Autobahn.
Wachen Glockengeläut-Gegner häufiger auf?
Personen mit einer negativen Einstellung zum Glockengeläut wachten in unserer Studie etwas häufiger auf. Das haben wir kontrolliert. Wir wissen aber nichts über die Gründe dafür: Wurden diese Menschen zu Glockengeläut-Gegnern, weil sie wegen des Glockenschlags aufwachten, oder wachen sie häufiger auf, weil sie als Glockengegner eher darauf achteten? Die Einstellung zur Kirche an sich beeinflusste die Aufwachwahrscheinlichkeit jedoch nicht.
Und bei besonders lärmsensiblen Menschen?
Die individuelle Lärmempfindlichkeit spielt eine wichtige Rolle. Nicht alle Menschen reagieren gleich. Manche Personen in unserer Stichprobe zeigten fast keine Reaktionen, andere sehr ausgeprägte.
Kann man sich an Lärm gewöhnen?
Untersuchungen zeigen, dass man sich physiologisch an Lärm nie ganz gewöhnen kann. Manchmal passiert sogar das Gegenteil: Man wird mehr und mehr sensibilisiert und beginnt sich auf die störende Lärmquelle zu konzentrieren. In diesem Fall wird es besonders schwierig, die Störung wieder ignorieren zu lernen.
Mark Brink ist Mitautor der ETH-Feldstudie von 2011 über die Auswirkungen von Kirchenglockenschlägen. Heute arbeitet er beim Bund.
(aargauerzeitung.ch)