Als die Frau stirbt, ist sie erst 60 Jahre alt. Aber ihr lebenslanger Diätwahn lässt sie älter erscheinen. Sie ist 172 Zentimenter gross und hat nie mehr als 50 Kilogramm gewogen, sie lässt ihr Gewicht dreimal täglich messen, ihr Mittagessen besteht oft nur aus einem gesalzenen Eiweiss. In jüngeren Jahren war sie eine Sportfanatikerin und zählte zu den besten Jagdreiterinnen Europas. Wenn sie fastet, leidet sie unter Depressionen.
Ihr Lieblingscousin ist mit 40 Jahren ertrunken, ihr Lieblingssohn hat sich mit 30 Jahren erschossen. Von ihrem Mann hat sie sich schon lang entfremdet, sie versucht sogar, ihn mit einer Schauspielerin zu verkuppeln. Ihr eigenes Leben besteht seit vielen Jahren aus Reisen. Ist sie gesund, so reist sie zum Vergnügen, ist sie krank, reist sie zur Kur.
Zum Zeitpunkt ihres Todes, am Nachmittag des 10. September 1898, hat Elisabeth, die Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, schon oft von ihrem Tod geträumt. In der Nacht und in ihren Gedichten. In ihrem Tagebuch heisst es:
Du bist so jung gestorben
Und gingst so rein zur Ruh’.
Ach wär’ mit dir gestorben,
Im Himmel ich wie du.
1890 schrieb sie «Dem Herrn Presidenten der Schweizer Eidgenossenschaft, Bern» einen Brief, in dem steht, dass alle ihre Gedichte «vom Jahre 1890 an in 60 Jahren» veröffentlicht werden sollen, «zum besten politisch Verurteilter u. deren hülfebedürftigen Angehörigen». «Denn in 60 Jahren so wenig wie heute werden Glück u. Frieden, das heisst Freiheit, auf unserem kleinen Sterne heimisch sein. Vielleicht auf einem anderen?» Unterschrieben war der Brief mit ihrem poetischen Pseudonym «Titania».
Vielleicht hätte es geholfen, wenn sie mit dem 25-jährigen italienischen Anarchisten Luigi Lucheni über Glück und Frieden und Freiheit hätte diskutieren können. Vielleicht hätten sie sich irgendwo gefunden, in einer Utopie. Vielleicht hätte Lucheni dann nicht zugestochen, mit seiner um einen Holzgriff verstärkten Feile.
Aber so, wie sie einander begegnen, kann es keine Verständigung geben zwischen der Monarchin und dem Anarchisten, der ausgezogen ist zu töten. Nicht die österreichische Kaiserin allerdings, die war bloss sein Ersatzopfer, sondern den französischen Prinzen Henri Philippe Marie d’Orléans. Aber der Prinz hat seinen Aufenthalt in Genf kurzfristig abgesagt, und so sticht Luchenis Feile 85 Millimeter tief in die Brust der Kaiserin, sticht durch die Lunge und das ganze Herz, wie die Obduktion ergibt.
Gräfin Sztáray, die Begleiterin der Kaiserin, schildert der Genfer Polizei den Vorfall so: Die beiden wollten von Genf aus mit dem Schiff nach Montreux reisen, die Sonne schien, und auf dem Quai de Mont Blanc, vor dem Hotel Beau Rivage, rammte um exakt 13.35 Uhr ein Mann seine Faust in die Brust der Kaiserin. Elisabeth sank zu Boden, stand aber schnell wieder auf, und die beiden Frauen betraten das Schiff: «Als ob nichts geschehen wäre. Frisch und elastisch schritt sie neben mir her, meinen Arm lehnte sie ab.» Dann sank sie in sich zusammen: «Mit Entsetzen erblickte ich in ihren Augen den Tod.»
Zwei Männer trugen die Kaiserin aufs Oberdeck, Gräfin Sztáray öffnete ihre Bluse und ihre Mieder, und sah einen kleinen Blutfleck. «In diesem Augenblick stand die lähmende Wahrheit vor mir. Die Kaiserin war erdolcht worden.» Sie bat den Kapitän umzukehren. Drei Stunden nach dem Attentat war Kaiserin Elisabeth von Österreich, Königin von Ungarn, die damals – jedenfalls symbolpolitisch gesehen – mächtigste Frau der Welt, tot. Als ihr Mann von ihrem Tod erfuhr, soll er gesagt haben: «Sie glauben gar nicht, wie sehr ich diese Frau geliebt habe.» Am 12. September nehmen 15'000 Menschen in Genf von ihr Abschied, in einem Sonderzug wird ihre Leiche nach Wien transportiert.
Luigi Lucheni ist da schon längst verhaftet. Und stolz. Er hat seine Mission erfüllt, nämlich an den Ketten zu rütteln, «die eine verkommene Aristokratie und eine kapitalistische Bourgeoisie uns auferlegen». Erst im Mai hatte der italienische König Umberto I. in Mailand Hunderte von aufständischen Arbeitern massakriert. Lucheni bittet den schweizerischen Bundespräsidenten darum, nach luzernischem Recht verurteilt zu werden, weil die Todesstrafe im Kanton Luzern damals noch gültig, im Kanton Genf aber bereits abgeschafft ist. Er will enthauptet werden.
Über sein Opfer sagte er: «Sie war nicht besonders schön. Schon recht alt. Wer etwas anderes sagt, hat keine Ahnung. Oder er lügt.» Danach liefert er der Genfer Polizei ein grossartiges Gefecht – aus lauter Lügen. Was er in einer Minute erzählt, dementiert er in der nächsten.
Hatte er Komplizen gehabt? Nein! Ja, klar! Kannte er die Kaiserin? Ja, er hatte sie vor vier Jahren in Budapest gesehen. Ach, die Kaiserin war damals gar nicht in Budapest? Was war seine Adresse in Genf? Keine Ahnung. Rue d’Enfer? Wirklich? Und er war wirklich dabei gesehen worden, wie er das Haus verliess? Nein, das konnte nicht sein, er hatte doch im französischen Evian übernachtet! Und wo in Evian? «Es war ein Café, und oben kann man schlafen. Es gibt davon mehrere in Evian. Den Namen der Strasse weiss ich natürlich nicht... wenn sie überhaupt einen hat.»
Womit hatte er die Kaiserin ermordet? Mit einem Dolch. Ach nein, einer Feile, klar! «Sie haben mir die Sache mit dem Dolch ja richtig in den Mund gelegt!» Wieso wusste er, dass sich die Kaiserin in Genf auf einem Erholungsurlaub befand? «Aus der Zeitung!» Nein, doch nicht: «Ich habe nichts Derartiges gesagt.» Was hatte er vor kurzem in Belgien gesucht? «In Belgien? Ich war nie dort. Nie im Leben.» Den völlig entnervten Beamten sagte er: «Warum sind Sie so böse auf mich? Sie haben mich doch! Und mein Geständnis haben Sie auch. Genügt das nicht?»
Was Lucheni damit bezweckt? Ein Spiel, einen letzten Spass natürlich, aber vor allem will er als reiner, heldenhafter Anarchist dastehen. Als Theoriegeborener quasi, der nicht aufgrund von Dritten, sondern aus allerfreistem Willen gehandelt hat, allein, autonom, einzig der Lehre verpflichtet. Er zeigt sich glücklich über seine Tat, triumphierend strahlt er für die Fotografen und nennt sich «Wohltäter der Menschheit».
Natürlich ist seine Strahlkraft gross. Er erhält glühende Fanpost: «Alle, die für das Wohl der Menschheit kämpfen, bewundern Deine noble Tat. Diese Frau war durch ihre Geburt schon verbrecherisch. Sie hat niemals gearbeitet! Sie wollte nie arbeiten! Sie hat immer herrschen wollen. Sie ist schändlich, ebenso wie ihr schändlicher Mann», scheibt einer. Und ein anderer: «Der freigebige Stich, den Du der Repräsentantin der österreichischen Bourgeoisie versetzt hast, hat mir grossen Eindruck gemacht. Natürlich hat er für uns alle in der Schweiz schlimme Repressalien zur Folge gehabt.»
Denn die Romandie ist damals nicht nur ein begehrtes Ferienziel von Aristokraten, sondern auch eine Hochburg italienischer Anarchisten. Aus Neuchâtel publizieren sie die Zeitschrift «L’Agigatore» und verteidigen darin wortgewandt Luchenis Tat und zerpflückten vor allem den Vorwurf, dass die Kaiserin als Frau doch eigentlich ganz unschuldig an allen Vergehen ihrer Klasse sei. Eine Klasse, die im Krieg schliesslich auch nicht vor der Ermordung von Frauen und Kindern zurückschrecke. Die Schweizer Behörden verboten daraufhin die Zeitung und schoben 35 bekannte italienische Anarchisten ab.
Nach 12 Jahren Haft, am 19. Oktober 1910, erhängt sich Luigi Lucheni in seiner Genfer Zelle. Und die Enthauptung, die er einmal so glühend verlangt hat, findet endlich statt: Die Schweiz schickt seinen Kopf nach Wien, wo er bis 2000 in einem anatomischen Institut aufbewahrt wird. Erst dann wird er auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Acht Kilometer von der Kaisergruft entfernt, wo der Sarkophag der Kaiserin steht.
Da ruhen sie beide. «Glück u. Frieden» sind auf unserem kleinen Stern noch immer nicht so richtig zuhause, und der Kapitalismus schindet die Menschen noch immer zu Tode.
Sehr zu empfehlen ist der Materialienband «Ob mit Dolch, Feile oder Revolver», erschienen bei Unruhen Publikationen.