Die SBB-Geschäftsleitung stellt sich selbst Bestnoten aus. Die Züge und Bahnhöfe werden gemäss den Geschäftsberichten von Jahr zu Jahr sauberer. Ein roter Pfeil symbolisiert den Fortschritt in diesem Bereich. 2016 zeigte er in einem 45-Grad-Winkel nach oben, was «Jahresziel erreicht / fast erreicht» bedeutet. 2015 wies er sogar senkrecht nach oben: «Jahresziel übertroffen».
Die SBB messen die Sauberkeit mit einem aufwendigen Qualitätsmanagementsystem. Seit 2009 beschäftigen die Bundesbahnen 21 Testkunden, die jedes Jahr insgesamt 2500 fünfstündige Touren absolvieren und 10000 Messungen in Zügen und 13000 an Bahnhöfen durchführen. Alle SBB-Strecken werden beurteilt; vom S-Bahn- Netz bis zu den TGV-Lyria-Linien. Jeder Tester hat ein 30-Prozent-Pensum und wird mit Fr. 37.60 pro Stunde entschädigt. In den Nächten und an Sonn- und Feiertagen gibt es Zuschläge von 25 und 50 Prozent.
Die SBB legen Wert darauf, dass die Testkunden keine subjektiven Einschätzungen abgeben. Es handle sich um «objektive, statistisch abgesicherte und justiziable Qualitätsaussagen», heisst es in einem internen Bericht. Die Statistik muss hieb- und stichfest sein, weil sie eine Grundlage für das Bonus-Malus-System darstellt. Damit können Kantone die SBB für die bestellten Leistungen belohnen oder bestrafen. Es geht um viel Geld. Der maximale Bonus oder Malus beträgt alleine für den Zürcher Regionalverkehr fast fünf Millionen Franken. Die Testkunden geben ihre Bewertungen deshalb nach genau definierten Kriterien in ein Smartphone ein und belegen Mängel mit Fotos.
Der «Schweiz am Wochenende» liegen die als «vertraulich» eingestuften Resultate der Testkunden von 2012 bis heute vor. Die Sauberkeit bewegt sich demnach in eine andere Richtung, als die Geschäftsberichte angeben. Die Tester stellen fest, dass dieZüge und Bahnhöfe in jüngster Zeit schmutziger geworden sind (siehe Grafik). Bei den Bahnhöfen sind die kleineren besonders betroffen. Am schlechtesten schneiden die Velostationen und Warteräume auf den Perrons ab. Die Art der Züge hingegen spielt keine Rolle. Die Aufenthaltsqualität hat sich gemäss der Statistik sowohl im Fern- als auch im Regionalverkehr verschlechtert. Erste oder zweite Klasse macht ebenfalls keinen Unterschied. Die Kurven gehen parallel nach unten.
ETH-Umweltpsychologe Ralph Hansmann sieht ein gesellschaftliches Problem. Das Littering habe sich auch auf öffentlichen Plätzen verschlimmert.
Der SBB-Report erhält allerdings auch positive Noten. Die Testkunden stellen eine gute Ordnung und weniger Vandalismus fest. Mit Ordnung sind etwa herumliegende Zeitungen gemeint. An den Bahnhöfen ist zudem ein Problemort verschwunden: DieToiletten werden besser bewertet als Warteräume oder Velostationen.
SBB-Sprecher Christian Ginsig bestätigt die Zahlen und den Abwärtstrend bei der Sauberkeit. Das sei aber «nicht dramatisch», da das Niveau nach wie vor hoch sei. Mit dieser Argumentation versucht er, den Widerspruch zu entkräften, dass die Pfeile in denGeschäftsberichten in eine andere Richtung zeigen. Die Resultate seien «am ehesten auf die gestiegenen Fahrgastzahlen zurückzuführen», sagt er. An den Reinigungszyklen liege es jedenfalls nicht.
Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV kommt zu einer anderen Einschätzung. Wie das Putzpersonal die Züge zu reinigen hat, regeln die SBB in detaillierten Plänen. Gewerkschaftssekretär Jürg Hurni sagt: «Die Minuten, die das Reinigungspersonal für einen Wagen zur Verfügung hat, wurden in den vergangenen Jahren laufend gekürzt.»
Vor einem Jahr entfernten die SBB in den S-Bahnen die Abfallkübel aus den Abteilen. «Das hat dazu geführt, dass einige Kunden ihren Dreck einfach auf dem Platz liegen lassen. Dieser landet später unter den Sitzen», beobachtet Hurni. Viele Bahnkunden würden sich nicht an die Empfehlung halten, den Abfall mitzunehmen und draussen in eine Recyclingstation zu werfen. Die SBB bezeichneten das Ende der Kübel als Komfortgewinn. Hurni widerspricht: «Es geht um Einsparungen.» Das Personal spare dieZeit für das Leeren der Kübel, habe aber nicht zusätzliche Reinigungsminuten erhalten. Der Gewerkschafter fasst zusammen: «Es gab in den vergangenen Jahren mehr Reisende, mehr Abfall, jedoch nicht mehr Reinigung.»