Schweiz
Gesellschaft & Politik

Wie ein SVP-Bundesrichter im Glockenstreit eine Pirouette vollzieht

Portrait of Swiss federal judge Peter Karlen, taken at the federal court in Lausanne, Switzerland, on February 22, 2015. (KEYSTONE/Gaetan Bally)

Bundesrichter Peter Karlen portraitiert am 22. Februar ...
Der SVP-Richter in Lausanne: Peter Karlen. Bild: KEYSTONE

Wie ein SVP-Bundesrichter im Glockenstreit eine Pirouette vollzieht

Kirchen müssen sich nicht an die Nachtruhe halten. Dies entscheidet das Bundesgericht nach einer emotionalen Debatte, die einige Richter aus der Fassung bringt.
14.12.2017, 05:4614.12.2017, 08:14
andreas maurer, Lausanne / Aargauer Zeitung
Mehr «Schweiz»

Peter Karlen (59) ist gewissermassen nur ein halber SVP-Bundesrichter. Vor knapp zwanzig Jahren wechselte er nicht nur aus Überzeugung von der FDP zur SVP, sondern auch wegen der Karriere. Bei der FDP herrschte ein Gerangel um Richterposten, bei der SVP Personalknappheit. Mit dem Parteiwechsel verpasste Karlen seiner Laufbahn den entscheidenden Dreh und schaffte es bis zum Bundesrichter. So kommt es, dass Karlen bei der Verhandlung des Kirchenglockenstreits von Wädenswil die Hauptrolle spielen darf.

Als Referent präsentiert er seinen Richterkollegen den Antrag, wie der Konflikt zu lösen sei. Er plädiert dafür, den Viertelstundenschlag von 23 bis 6 Uhr abzuschalten. Damit entscheidet er sich gegen seine Partei, die in richterlich verordneten Ruhezeiten den Untergang der schweizerischen Werte sieht.

Doch der Appell aus der SVP-Zentrale ist gar nicht nötig, um den SVP-Richter zu stoppen. Das unternehmen die vier anderen Bundesrichter von FDP, CVP, SP und Grüne. Nach der ersten Diskussionsrunde merkt Karlen, dass er isoliert ist. Er sagt, er habe seine Meinung geändert. Er zieht seinen Antrag zurück und unterstützt nun den Gegenantrag. Das Bundesgericht entscheidet deshalb, dass alles so bleibt, wie es ist: Die Kirche bleibt im Dorf und jene von Wädenswil darf auch nachts schlagen.

ARCHIV - ZUM ENTSCHEID DES BUNDESGERICHTS UEBER DAS LAEUTEN DER KIRCHENGLOCKEN IN WAEDENSWIL, AM MITTWOCH, 13. DEZEMBER 2017, ERHALTEN SIE FOLGENDE ARCHIVBILDER ---- Blick auf die evangelisch-reformie ...
Kirchenglocken sorgen für viel Ärger. Bild: KEYSTONE

«Ruhebedürfnis geht vor»

Normalerweise spielt die Parteizugehörigkeit vor Gericht keine Rolle. Doch beim Glockenstreit geht es um eine Abwägung verschiedener Werte. Karlen sagt: «Die juristischen Argumente sind nicht ausschlaggebend. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen gemacht.» Bei sich persönlich meint er allerdings nicht SVP-Werte, sondern seine Wohnumgebung in der Stadt Zürich. In seinem ersten Statement erklärt er, dass der Fall Wädenswil anders als die bisherigen Glockenstreite zu beurteilen sei, weil er in einem Stadtzentrum stattfinde: «Stark lärmvorbelastete Gebiete müssen umso mehr geschützt werden. Eine Einschränkung des Viertelstundenschlags würde hier einiges bringen.»

Man müsse eine Abwägung von Tradition versus Ruhebedürfnis vornehmen: «Das Ruhebedürfnis geht aus meiner Sicht vor.» Das sei der entscheidende Unterschied zu den bisherigen Bundesgerichtsurteilen, die Fälle im Zürcher Oberland betrafen. In Wädenswil seien die Verhältnisse anders, weshalb es keine Praxisänderung sei, wenn das Bundesgericht hier nun anders entscheiden würde.

Rhetorisches Slalomfahren

Karlen vollzieht jedoch nicht nur eine Pirouette, als er zwei Stunden später seinen Antrag zurückzieht und für das Gegenteil plädiert. Schon bei seinem ersten Auftritt nutzt er den grössten Teil seiner Redezeit, um gegen ein Verbot zu argumentieren, und nimmt erst kurz vor Schluss den rhetorischen Bogen, um sich doch dafür auszusprechen.

Zuerst widerspricht er dem Zürcher Verwaltungsgericht, gemäss dem die nächtliche Zeitangabe keinem Bedürfnis entspreche. Karlen erinnert sich an seine eigenen schlaflosen Nächte und sagt: «Wenn man im Bett liegt, ist der Viertelstundenschlag für viele Leute ein vertrautes Signal, dass die Welt in Ordnung ist.»

Im Gerichtssaal herrscht verkehrte Welt. Der SVP-Richter spricht sich nach einer Interessensabwägung gegen die Tradition aus. Der SP-Richter, Lorenz Kneubühler, verteidigt sie: «Die Kirche von Wädenswil steht seit drei Jahrhunderten. Das Ehepaar hätte sich vor dem Umzug informieren sollen.» Karlen greift den SP-Kollegen für diese Aussage persönlich an und wirft ihm eine «Entgleisung» vor.

Lob und Tadel für Karlen

Nancy Holten, Sprecherin der IG Stiller, die Lobbyorganisation der Lärmgegner, sagt über Karlen: «Das ist ein sehr seltsamer Meinungsumschwung.» Es sei eine Frage der Zeit, bis das Bundesgericht umschwenke: «Das Gewicht der Kirche schwindet von Jahr zu Jahr.»Peter Meier, Präsident der reformierten Kirche von Wädenswil, kann hingegen der inneren Zerrissenheit des SVP-Richters Positives abgewinnen: «Das Bundesgericht ist ein Abbild der Bevölkerung. Auch sie ist gespalten.» Als er den Satz im Gang des Bundesgerichts sagt, huscht Karlen an ihm vorbei. Meier zieht seinen Hut und sagt: «Danke.» Am Schluss zählt nur das Resultat der Verhandlung. Misst man Karlen daran, ist er ein ganzer SVP-Bundesrichter.

«Danke Kirchenglocken, ich wollte eh nicht schlafen!»

Video: watson/Emily Engkent
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
58 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Denk-mal
14.12.2017 08:02registriert August 2015
Ich als Atheist denke, dass ein Stundengeläute mit gedämpftem Glockenton (ist machbar) zumutbar sein könnte. Viertelstundengeläute finde ich übertrieben. Aber etwas anderes: Heutzutage wäre es möglich, einen Belag, welcher die Reifengeräusche senkt v.a. bei stark befahrenen Strassen in Wohngebieten/ Wohnhäusern einzulegen und zudem endlich lärmende Auspuffs und idiotisches herumbolzen hart zu bestrafen. Die Jungs, welche ihren sexuellen Frust aufs Gaspedal onanieren, gehört der Ausweis für einen Monat weg!
8510
Melden
Zum Kommentar
avatar
der nörgler
14.12.2017 07:36registriert Januar 2014
Tradition hin oder her. Es ist störend, dass eine private Organisation wie die Kirche mehr Rechte hat als andere und dass das vom Staat gestützt wird. Wenn ich in der Nacht alle Viertelstunde mit der Autohupe hupen würde, wie lange könnte ich das wohl machen?
Dieses Gebimmel braucht es nicht.
14875
Melden
Zum Kommentar
avatar
Gummibär
14.12.2017 07:34registriert Dezember 2016
Seit Jahrtausenden bimmeln Glocken in Asien um die bösen Geister zu vertreiben und seit Karl der Grosse uns das Christentum verordnet hat auch bei uns. Anfänglich um zum Morgen-und Abendgebet zu rufen, dann zur Messe, bei Sturm und Feuer, zur Bestattung und schliesslich um die Leute in einem gemeinsamen Lebensrhythmus zu organisieren.
Müsste es immer noch mittels Seilzug vom Priester, Mönch oder Glöckner besorgt werden, wäre die Nachtruhe schon längst eingetreten. Also: wenn schon Tradition, dann richtig. Entfernt das mechanische und elektrische Zeug und lasst den Pfarrer selbst bimmeln.
6913
Melden
Zum Kommentar
58
Wo die 800'000 Auslandschweizer wohnen – und in welchen 5 Ländern KEIN EINZIGER
Die Schweiz ist eine Nation von Auswanderinnen und Auswanderern. Diesen Schluss legt die Auslandschweizerstatistik nahe. Die Schweizer Gemeinde im Ausland wuchs 2023 um 1,7 Prozent. Nahezu zwei Drittel davon leben in Europa.

Am 31. Dezember 2023 waren 813'400 Schweizerinnen und Schweizer bei einer Vertretung im Ausland angemeldet, wie das Bundesamt für Statistik (BFS) am Donnerstag mitteilte. 2022 war die Auslandschweizer-Bevölkerung noch um 1,5 Prozent gewachsen.

Zur Story